„Kurapaty“ nennen Anwohner das Stück Erde nordwestlich der weißrussischen Hauptstadt Minsk in ihrem Dialekt, nach den Anemonen, die früher im Frühling den Boden wie ein weißer Teppich bedeckten. Der NKWD, der berüchtigte Vorläufer des sowjetischen Geheimdienstes KGB, hatte ab 1937 Menschen mit Lkws nach Kurapaty transportiert. In einem abgezäunten Bereich wurden sie abgeladen und zu Gruben gebracht, wo sie erschossen wurden. Wenn die Gruben mit Leichen gefüllt waren, wurden sie mit Erde verschlossen. Dann pflanzte man Kiefern.

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Offensichtlich ein Freund von Ideen der Vergangenheit: Weißrusslands Machthaber Alexander Lukaschenko (1996) (Foto: Wassili Fedosenko/Reuters/Corbis)

Offensichtlich ein Freund von Ideen der Vergangenheit: Weißrusslands Machthaber Alexander Lukaschenko (1996)

(Foto: Wassili Fedosenko/Reuters/Corbis)

Seit den ersten Ausgrabungen Mitte der 80er-Jahre wurden rund 510 Gruben gefunden“, sagt der weißrussische Historiker Ihar Kuznjatsau. Bis 1941, als die Wehrmacht in Weißrussland einmarschierte, wurden in Kurapaty so 30.000 Menschen von der Geheimpolizei ermordet – mindestens. Andere Schätzungen gehen von bis zu einer Viertelmillion Toten aus. Der Geheimdienst ging gegen sogenannte „konterrevolutionäre Kräfte“ und „Feinde der kommunistischen Revolution“ vor. De facto ging der NKWD aber recht willkürlich vor. Jeder konnte zur Zielscheibe des „Großen Terrors“ werden. „Aber wie viele Tote hier wirklich liegen, lässt sich nicht nachvollziehen.“ Unter anderem hatten die Machthaber der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg versucht, die Überreste mit chemischen Mitteln zu beseitigen. Und als ab Ende der 50er-Jahre die Ringautobahn um Minsk gebaut wurde, wurden viele Gruben geräumt.

„Natürlich erfuhr die Bevölkerung damals nicht, was für ein Morden sich hier zugetragen hat“, sagt Kuznjatsau, der an der staatlichen Universität des Landes lehrt und ein Experte für die sowjetischen Repressionen in Weißrussland ist. „Die Sowjets haben einfach erklärt, hier würden Opfer der Nazi-Okkupation liegen.“

In Weißrussland führte der Archäologe und spätere Politiker Zjanon Paznjak schon in den 70er-Jahren heimlich Interviews zum Thema. Doch erst ab Mitte der 80er-Jahre, zur Zeit von Perestroika und Glasnost, konnten sich Forscher dem Thema ernsthafter widmen. 1988 machte Paznjak die Berichte und die Ergebnisse erster Ausgrabungen in Kurapaty öffentlich. So sorgte er für einen Aufschrei in der weißrussischen Gesellschaft und setzte eine neue Nationalbewegung in Gang. „Die Tatsache, dass die Sowjetmacht die eigenen Leute ermordet und das viele Jahrzehnte vertuscht hatte“, sagt Kuznjatsau, „ließ das Vertrauen in die sowjetischen Machthaber erodieren.“

Die Kiefern ragen hoch in den Himmel. Zwischen den dürren Bäumen stehen Holzkreuze. Es sind Dutzende, vielleicht Hunderte. Aber es gibt kein offizielles Schild, auf dem erklärt wird, was für ein Horror sich in Kurapaty zugetragen hat. „Wie kann das sein?“, fragt eine ältere Frau aus der Gruppe von Deutschen, die Ihar Kuznjatsau an diesem Tag hierhin geführt hat. Seit 1994, also fast seit Beginn seiner Unabhängigkeit, wird Weißrussland vom Autokraten Alexander Lukaschenko regiert. Einem Präsidenten, der nicht viel von Menschenrechten hält und der die alten Sowjetmythen liebt.

Seit 20 Jahren regiert der Autokrat Lukaschenko das Land

Als Lukaschenko an die Macht kam, wurden die stalinistischen Säuberungen und Repressionen wieder zum Tabuthema. Die Erkenntnisse, die man heute über die Opfer des Kommunismus hat, stammen vor allem von mutigen Einzelkämpfern und Initiativen, die Publikationen herausgeben, Erinnerungstafeln und Kreuze aufstellen. Die aber immer wieder beschädigt und zerstört werden. Von wem? Kuznjatsau: „Wir schalten in solchen Fällen die Polizei ein. Aber Täter wurden nie gefasst.“

Auch in Schulbüchern wird nichts über die traurigen Seiten des Kommunismus gelehrt. Stattdessen lernen die Kinder die alten Sowjetlegenden von den glorreichen Veteranen der Roten Armee. Die Opfer des Krieges, die erschossenen Juden, die heimgekehrten Kriegsgefangenen, die in Lager geschickt wurden, werden totgeschwiegen. An den Universitäten wurde seit 17 Jahren keine Forschungsarbeit über die Repressionen in der Regierungszeit Josef Stalins mehr zugelassen. Stattdessen wird dem Diktator in Fernsehsendungen gehuldigt oder Felix Dzerschinski, dem blutrünstigen Erfinder der sowjetischen Geheimpolizei, ein neues Denkmal errichtet, wie 2006 auf dem Areal der Minsker Militärakademie.

„Die Archive des KGB, wo die Dokumente zu den Repressionen liegen, sind für uns bis heute verschlossen“, sagt Kuznjatsau. Deswegen kennt man keinen einzigen Namen derjenigen Menschen, die in Kurapaty oder an den anderen circa 100 Erschießungsstellen im Land liegen. Man weiß nicht, wie viele Menschen von welchen Repressionen (Gefängnis, Deportation, Erschießung) in der Zeit von 1917 bis 1953 betroffen waren. Kuznjatsau hat häufig versucht, Zugang zum weißrussischen KGB-Archiv zu erhalten. Die Antwort: „Warum müssen Sie sich mit dem Thema beschäftigen? Warum sollte das gut sein?“

Die Folgen eines unermüdlichen Einsatzes für eine fundierte Erinnerungsarbeit kennt er nur zu gut. „Ich wurde schon häufig beim heutigen weißrussischen KGB verhört“, erklärt er. „Zudem musste ich mich bei den Ideologiebeamten meiner Universität rechtfertigen.“ Er macht trotzdem weiter, publiziert und führt Interessierte zu den Erschießungsstellen, von denen es alleine acht im Gebiet von Minsk gibt.

Der Ideologiebeamte und der Geheimdienst überwachen die Forschungen

„Für jemanden, der aus einer Demokratie kommt“, sagt er, „ist es sicher nicht leicht zu verstehen, warum der Staat bei uns etwas dagegen hat, sich an die Gräueltaten zu erinnern.“ Die Sonne scheint Kuznjatsau ins Gesicht. „Die Jüngeren, die nach 1990 geboren sind, wissen meistens überhaupt nichts von Kurapaty“, sagt er. Offiziell sei es nicht verboten, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Aber jeder wisse, dass dies zu bösen Konsequenzen führen könne. „Das hat mit Selbstzensur und Angst zu tun“, erklärt Kuznjatsau. „Angst, die noch von diesen furchtbaren Zeiten unter Stalin herrührt.“

Die Frau, die eben die Frage gestellt hat, insistiert: „Aber was würde den Machthabern passieren, wenn es eine adäquate Aufarbeitung geben würde?“ Kuznjatsau antwortet, ohne zu überlegen. „Eine gute Erinnerungsarbeit würde einen mündigen Bürger hervorbringen.“

Ingo Petz arbeitet seit über 15 Jahren als freier Journalist. Als studierter Slawist hat er eine besondere Vorliebe für osteuropäische Themen und ist ein Kenner der zeitgenössischen Kunst- und Musikszene Weißrusslands.