In der Grandagardi 8 im Hafenviertel von Reykjavik steht ein unscheinbares Fabrikgebäude. Hier trifft sich die isländische Heidengemeinschaft, die Íslanska Ásatrúarfélagið. 700 Mitglieder zählt sie inzwischen. Jeder, der einen festen Wohnsitz auf Island hat und nicht mehr in der Kirche ist, kann ihr beitreten, sich nach alten Bräuchen einen Namen geben, trauen und beerdigen lassen. Die Satzung verlangt nur eins: die germanischen Götter und ihre Heiligtümer zu achten.

Seit das Heidentum auf der Insel 1972 als Religion staatlich anerkannt wurde, bekennen sich immer mehr Isländer zu den alten Sagen und ihren Göttern - spielerisch. "Da es fast gar keine Überlieferung gibt und nur ganz wenige Zeugnisse, von Zeitgenossen so gut wie gar nichts", sagt Wolfgang Müller, Berliner Buchautor und Direktor der Walther-von-Goethe-Foundation in Reykjavik, "braucht jemand, der heute eine Heidenreligion gründen will, jede Menge Phantasie und Kreativität. Das ist schon mal gar nicht schlecht."

Zwischen Ahnenkult und Naturgewalten

Haukur Halldorsson öffnet, ein bärtiger Maler, groß gewachsen, mit schlohweißem Haar, das zu einem Zopf gebunden ist. Der 66-Jährige trägt Jeans, Pullover und ein Heidenkreuz um den Hals. "Mein Name bedeutet Falke im Altnordischen", erklärt er. Wachsam ist er, schlagfertig und humorvoll, mit viel Gefallen an sich selbst, einer, der sagt und tut, was er denkt.

Halldorsson hat die Bilder der germanischen Götter gemalt, die im ersten Stock hängen - neben Wandteppichen zu Erzählungen der Edda, alten Schwertern und einem schweren, schmiedeeisernen Leuchter. Stolze Zitate isländischer Geschichte, geprägt von blutigen Schlachten um Haus und Hof, Ahnenkult und Naturgewalten, hat der Maler in der Hafenhalle zusammengetragen - nicht ohne eine Spur Ironie.

In einem Wikingerzelt steht ein Computer, der auf Knopfdruck alte Runenweissagungen ausspuckt - für jeden Tag eine andere. 5000 bis 6000 Runen gäbe es, erklärt Haukur Halldorsson, jede unterschiedlich in ihrer Bedeutung. Germanen und Wikinger hätten solche Runen in Holz geschnitzt, um ihre Kraft und Magie mit dem für das Leben stehenden Baum zu verbinden.

Islands Heidentum ist eine Naturreligion - mit eigenen Gesetzen. Leben heißt Überleben. "Wenn ein Adler einen Fisch jagt, ist das natürlich, nicht grausam", erklärt Haukur Halldorsson und lehnt sich in einem alten, braunen Sofa zurück. "Hier auf Island sitzen wir auf aktiven Vulkanen, die jeden Tag hochgehen können. Ist das grausam? Nein, das ist das Leben. Man kann Gott nicht um Erlaubnis bitten, dass man sicher ist."

Der erste Obergode der isländischen Heiden, der Allsherjargoði, war Sveinbjörn Beinteinsson, ein Bauer, berühmt für altisländischen Gesang und seine Gedichte, der sich in der poetischen Tradition der Vorväter sah. Er war es, der 1972 den Verein derer ins Leben rief, die an die Asen, die nordischen Götter, glauben, "um die Verbindung des Menschen zur Natur wieder herzustellen, zu allen Kräften, die in der Natur sind, um sie verstehen zu können".

Götter mit menschlichen Schwächen

Doch die Ásatrúarfélagið, die Gemeinschaft der "Asentreuen", will die Zeit nicht zurückdrehen. Sie sind kein elitärer ritueller Clan, sondern eine weltoffene Gruppe von Künstlern und Intellektuellen, die das Erbe der alten Isländer, ihre pragmatische, poetisch-lebensnahe Tradition schätzt. Viele sind wie Haukur Halldorsson weit gereist, aber immer wieder nach Island zurückgekehrt.

Die germanischen Götter sind nicht allmächtig, sondern gut und schlecht zugleich. Am Ende, so steht es in der Edda, werden selbst sie dem ewigen Kreislauf der Natur unterliegen und untergehen, im Ragnarök, der Zeit, in der sich alle Mächte auflösen. "Dennoch ist unsere Aufgabe, das Gute in uns zu finden und an ihrer Seite zu kämpfen", sagt Haukur. Denn in ihnen erkenne man sich wieder: Auch die Götter sind streitsüchtig, liebestoll, listig, verzagt oder jähzornig - höchst menschlich eben.

Elfen im Stein

Die Edda erzählt auch: Blutig ist ihre Welt entstanden. Aus der gähnend leeren Schlucht Ginnungagap zwischen Frost und Nebel (Niflheim) und einem Meer von lodernden Flammen (Muspelheim) stammt der Frostriese Ymir. Götter und Riesen erwachsen aus ihm, kämpfen miteinander und töten ihn schließlich. Sein Blut wird zum Meer, seine Gebeine zu Gebirgen, seine Zähne zu Stein, aus seinen Haaren wachsen Bäume und Gras, aus seinem Schädel wird die Himmelskuppe und aus seinem Gehirn die Wolken.

Um den Menschen beizustehen, bauen die Götter, die Asen, ins Zentrum von Midgard, dem Menschenland, eine Götterburg, Asgard. Viele solcher Berge, die im Regendunst einer gewaltigen Burg ähneln, gibt es auf Island, einer Insel, auf der der frisch ernannte Staatspräsident Ólafur Ragnar Grimsson 1996 in einem Interview erklärte: "Wissen Sie. Ich stamme von den Westfjorden. Da war der Glaube an Elfen nicht so stark. Was uns da mehr interessiert hat, waren die Trolle. Die fanden wir irgendwie beeindruckender."

Missbrauchter Heidenglauben

Elfen, Trolle, Götter, Riesen, Teile der vorchristlichen Mythologie wurden auf Island nicht so streng verfolgt wie in anderen Ländern Europas. Im Jahr 1000 traten die Isländer zum Christentum über, eher ein pragmatischer Schritt, um dem Druck des norwegischen Königs Olaf Tryggvason dem Heiligen nachzugeben. Heidnische Götter durften privat aber weiter verehrt werden. Die Mehrzahl der Isländer hält heute eine unbefleckte Empfängnis deshalb für ebenso möglich wie die Anwesenheit von Elfen im Lavagestein - oder den Beistand der alten Götter Thor, Odin, Freya und Frigg.

Dass das Heidenkreuz, das Sonnensymbol, im Nationalsozialismus zum Hakenkreuz wurde, ärgert den Maler maßlos. "Goebbels kannte sich in der Mythologie aus. Er wusste, wonach sich Menschen sehnen, und nutzte es für seine Menschen verachtende Propaganda", sagt Haukur Halldorsson. "Die Runen, das Heidenkreuz, all das hat er auf Jahre ruiniert. Ich weiß nicht, für wie lange." Mit rechtsextremen, neuheidnischen Gruppen wollen die Isländer nichts zu tun haben. Auf ihre Mails, die auch aus Deutschland kommen, antworten sie nicht.

Ihr Weg sei universell, Menschen verbindend, nicht ausschließend, sagt Haukur. Viele Christen, Familien und Freunde, kommen zu den Vorträgen, Konzerten und Ausstellungen der Ásatrúarfélagið und zu den Festen zu Ehren der Edda-Götter, so genannten Blóts - früher Opferrituale, heute symbolische Treueschwüre zwischen Menschen und Göttern. Aus einem Horn wird Met getrunken, ausgiebig gefeiert und gesungen und in Gedichten, Liedern, Oden um Beistand gebeten - nicht ernst, sondern sehr entspannt.

Viola Keeve arbeitet als Autorin für Zeitungen und Magazine und lebt in Köln.