Bild aus dem Comic auf dem 5 Personen der Mund zugeklebt ist

Stimmen, die fehlen

In „Schweigen“ erzählt Birgit Weyhe vom Verstummen in Diktaturen. Ihre Graphic Novel verwebt die Lebensgeschichten zweier Frauen, die gegen das Schweigen kämpften und doch nicht ganz dagegen ankamen

Von Paulina Albert
Thema: Kultur
25. Juni 2025

Worum geht’s?

Um die wahren Lebensgeschichten von Ellen Marx und Elisabeth Käsemann, die sehr unterschiedlich verliefen und sich doch an entscheidenden Punkten überschnitten. 

Ellens Geschichte beginnt im Jahr 1938 in Berlin, als Ellen 17 Jahre alt ist. „Was machst du denn noch hier?“, fragt eine Mitschülerin Ellen. „Das ist eine deutsche Schule“, sagt eine andere. Wenig später wird Ellen, die aus einer deutsch-jüdischen Familie kommt, tatsächlich der Schule verwiesen. Sie flieht allein nach Buenos Aires, ihre ganze Familie wird im Holocaust umgebracht. 

Knapp 40 Jahre später, Ellen arbeitet in der jüdischen Gemeinde und hat eine Familie gegründet, putscht 1976 in Argentinien das Militär und errichtet eine Diktatur. Ellens Tochter Nora engagiert sich gegen das Regime. Bis sie eines Abends spurlos verschwindet. Sie ist nicht die Einzige.

Elisabeth wiederum wächst im Deutschland der Nachkriegszeit auf. Als junge Frau nimmt sie an den Studentenprotesten teil, Ende der 1960er-Jahre zieht sie nach Argentinien und hilft in den Armenvierteln von Buenos Aires. Während der Diktatur fälscht sie Dokumente, um anderen die Flucht zu ermöglichen. 1977 wird sie verhaftet, wie im Jahr zuvor Ellens Tochter. Elisabeth wird in das Folterlager El Vesubio verschleppt und ermordet.

 

Szene aus dem Comic in der eine Junge eine Ohrfeige vom Vater bekommt
Szene aus dem Comic in der ein Mädchen von der Mutter einen Klaps bekommt

Worum geht’s wirklich?

Um das Schweigen in Diktaturen, von Täter:innen, von Mitwissenden und Politiker:innen, aber auch von Opfern. Als Ellen aus Deutschland flieht, schweigt ihr Vater und nickt ihr nur kurz zum Abschied zu. Nach dem Krieg schweigen die Eltern von Ellens Mitschülerinnen über ihre NS-Geschichte. Kurt Georg Kiesinger wird 1966 Bundeskanzler, seine NSDAP-Mitgliedschaft bleibt weitgehend unerwähnt. 

In der Zeit, als Elisabeth Käsemann erschossen wird, betreibt die Bundesregierung gegenüber Argentinien „stille Diplomatie“. Zwar fragt die deutsche Botschaft in Buenos Aires nach dem Verbleib Elisabeth Käsemanns, gibt sich aber damit zufrieden, dass das argentinische Regime behauptet, es wisse nichts. Der damalige Kanzler Helmut Schmidt und Außenminister Hans-Dietrich Genscher äußern sich nicht zu ihrem Verschwinden. Wirtschaftliche Interessen und die bevorstehende Fußball-WM in Argentinien scheinen wichtiger zu sein. 

Die Gründe für das Schweigen sind vielfältig. Manchmal sind es politische Interessen oder eine Einigkeit in der Gesellschaft, besser nichts zu sagen. Man könnte ja Schaden nehmen, wenn man den Mund aufmacht. Manchmal ist es die Last der Gefühle, Angst, Scham oder Trauer, die die Menschen zum Schweigen bringt. 

 

Einzelseite aus dem Comic
Einzelseite aus dem Comic

Wie ist es erzählt?

Die einzelnen Kapitel zeigen prägende Jahre im Leben von Ellen und Elisabeth, eingebettet in Erklärungen zur politischen Lage. Weyhe zeichnet Gefühle: Die Hauptfiguren lösen sich auf oder rauchen über mehrere Seiten still vor sich hin. Die staatliche Gewalt, die in jedem Kapitel vorkommt, ist wild gekrakelt. Nur die Erschießung Elisabeth Käsemanns ist ganz leise erzählt, mithilfe von Gegenständen, an die herangezoomt wird: das Straßenschild des Tatorts, die Stiefel der Soldaten. Das macht die Szene gleich doppelt beklemmend.

So schafft Weyhe es, Ellens und Elisabeths Schmerzen spürbar zu machen und gleichzeitig den Lauf der Geschichte sehr sachlich und klar zu erzählen. Um die Gefühle und Erlebnisse von Ellen und Elisabeth rekonstruieren zu können, hat Weyhe unter anderem mit Angehörigen der beiden gesprochen.

Ginge besser:

Manchmal erklären sich Personen gegenseitig Situationen, die sie beide erleben. So werden zwar viele Informationen vermittelt, es entstehen aber auch Dialoge, die gekünstelt wirken. 

 

Szenen aus dem Comic
Szenen aus dem Comic

Gut zu wissen

Das Verschwindenlassen Tausender während der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 war Teil des sogenannten „schmutzigen Krieges“ (Guerra Sucia) des Militärs gegen den Widerstand. Heute schätzen Menschenrechtsorganisationen die Zahl der Verschwundenen (Desaparecidos) auf 30.000.

Die Ignoranz Deutschlands gegenüber den Menschenrechtsverletzungen der Militärdiktatur und die „stille Diplomatie“ des Auswärtigen Amtes ließen zu, dass etwa 100 deutsche Staatsbürger:innen oder deren Nachkommen unter diesem Regime Argentiniens verhaftet, entführt, gefoltert oder ermordet wurden. Viele Menschen im Widerstand hatten ausländische Wurzeln. Etwa ein Zehntel der Desaparecidos war jüdisch, überproportional viele. Darunter zahlreiche Kinder von deutschen Jüd:innen, die vor Hitler geflohen waren. 

Stärkste Szene

Als ihre Tochter verschwindet, schreit Ellen ihren Mann an, sie werde nicht schweigen. Am Ende tut sie es doch, sie muss. Ihren zwei Kindern, die nach Israel ausgewandert sind, verschweigt sie das Verschwinden der Schwester aus Angst, abgehört zu werden. Obwohl sich Ellen als Aktivistin bei der Gruppe „Madres de Plaza de Mayo“ öffentlich gegen das Vergessen der Verschwundenen einsetzt, kann sie später in ihrer eigenen Familie nicht darüber sprechen. Vielleicht, denkt Ellens verbliebene Tochter in der letzten Szene, kann ihre Mutter nur weiterleben, indem sie ihren Schmerz verdrängt. Wenn sie all die Trauer, die Wut, die Sehnsucht zulassen würde, würde sie vielleicht die Kontrolle verlieren.

„Schweigen“ von Birgit Weyhe ist im Avant Verlag erschienen.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.