Im "Reichsadler" scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Die Gaststätte im Duisburger Stadtteil Rheinhausen verströmt den Charme der Fünfzigerjahre. Dunkelbraune Holzstühle, abgewetzte Biertische. Den gläsernen Thekenschrank zieren kitschige Figuren. "Gelsenkirchener Barock" nennen sie diese Möblierung im Ruhrgebiet. Der Sparklub "Familienglück" fühlt sich in dieser Behausung genauso heimisch wie der örtliche Kirchenvorstand oder die Politsekten der KPD/ML und DKP. In dieser Arbeiterkneipe haben vor zwanzig Jahren kreative Stahlkocher der benachbarten Krupp-Hütte zur Ret-tung ihres von Schließung bedrohten Werkes einen Arbeitskampf ausgeheckt – hinter dem Rücken der Gewerkschaftsfunktionäre. Im "Reichsadler" reiften Pläne für wochenlange wilde Streiks mit Straßenblockaden und Brückenbesetzungen. 6000 Menschen kämpften so um ihren Arbeitsplatz. 

Erst war es eine Belegschaft, später eine Stadt, am Ende eine ganze Region, die sich mit den Krupp-Stahlarbeitern in Rheinhausen solidarisierten. 160 Tage brodelte es im Revier. 
Helmut Laakmann sitzt im "Reichsadler" beim Pils. Der 59-Jährige trägt verwaschene Jeans, eine braune Lederjacke und Sportschuhe. Aus seinem hellblauen Pullover lugt ein gestreifter Hemdkragen hervor. Mit seinem Intellektuellen-Outfit wirkt der glatzköpfige Rundglasbrillenträger wie ein Fremdkörper in der heimeligen Malocherkneipe. Doch Berührungsängste gibt es nicht. Laakmann wird von beinahe allen Gästen geduzt. "Unser Helmut", sagt einer der Thekensteher, "ist doch eine Berühmtheit." Während des Rheinhausener Arbeitskampfes avancierte der damalige Abteilungsleiter des Stahlwerkes zum Arbeiterführer. "Ich war Vorgesetzter und kein Gewerkschaftsfuzzi", sagt Laakmann heute. "Jeder kannte und duzte mich im Werk. Für die war ich nur ,der Alte‘." Eine Autorität mit damals 39 Jahren.

Fast 6000 Kruppianer hatten sich am 30. November 1987 zu einer Belegschaftsversammlung in der großen Walzwerkhalle eingefunden. Auf Krupp-Chef Gerhard Cromme flogen Eier. Die Landesminister für Arbeit und Wirtschaft ergriffen das Wort. Schuld an den drohenden Massenentlassungen in der deutschen Stahlindustrie sei die EU-Bürokratie in Brüssel, empörten sich die Politiker. Die ersten Stahlkocher verließen frustriert die Walzwerkhalle. Da drängte der Abteilungsleiter Laakmann ans Mikrofon. "Es kann doch nicht sein, dass eine kleine Clique, eine kleine Mafia, mit den Menschen in diesem Lande macht, was sie will", dröhnte er ins Mikrofon. "Leute, das Buch der Geschichte ist aufgeschlagen, und jetzt liegt es an euch, hier mal ein paar neue Seiten zu schreiben. Lasst diese Generation, die nach uns kommt, nachlesen, wie man einen Arbeitskampf führt, wie man diesen Vorstand in die Knie zwingt!" 

Dann rief Laakmann, der in einem bronzefarbenen, feuerfesten Stahlkochermantel und mit einem breitkrempigen Schutzhelm vor der Belegschaft stand, jene Sätze aus, die ihn am Abend in die Tagesschau brachten: "Kruppsche Arbeiter, nehmt jetzt diese historische Stunde wahr, um endlich das auszufechten, was auszufechten ist. Wir in Rheinhausen lassen uns nicht verscherbeln. Uns verkauft keiner, weder für dumm noch im Sack." Dann berief sich Laakmann auf die Bibel, die er ein "Verhandlungsbuch für Menschen" nannte. Jahrelang habe die Krupp-Belegschaft die linke und die rechte Wange hingehalten. Jetzt müsse die Parole lauten: "Auge um Auge, Zahn um Zahn." Orkanartiger Beifall brandete auf. Entzückt riefen die Malocher: "Zugabe! Zugabe!" Die Geburtsstunde eines Arbeiterführers, der die Initialzündung für einen der spektakulärsten Arbeitskämpfe in Deutschland gab.

Seine aufrührerische Rede sei nichts anderes als ein Appell an die Solidarität gewesen, urteilt Laakmann heute. "Als Einzelner bist zu nix, aber zusammen, da geht was." Plötzlich hätten die Kruppianer gespürt: "Mensch, wir haben alle das gleiche Problem." Seine mitreißende Botschaft sei simpel gewesen, sagt der einstige Arbeiterführer: "Jungs, stellt euch gerade hin! Lasst euch hier nicht langmachen!" Die rhetorischen Funken, die der ge-lernte Stahlkocher am Rednerpult geschlagen hatte, sprangen über. Die Belegschaft fing Feuer. "Die haben sich alle in den Wind gestellt", sagt Laakmann stolz.

An Heiligabend 1987 zogen mehr als 10 000 Menschen vor das Tor I des Rheinhausener Krupp-Hüttenwerkes. Während ihres Arbeitskampfes wollten die Stahlkocher nicht allein mit ihrer Familie unter dem heimischen Christbaum bleiben. Bis in die Nacht hinein feierten die Bewohner eines ganzen Stadtteils vor dem Stahlwerk gemeinsam Weihnachten. Es gab Glühwein und Kuchen. Zwei Pfarrer zelebrierten einen ökumenischen Gottesdienst. "Stille Nacht, heilige Nacht", erschallte es aus Tausenden Kehlen. Eine gespenstisch-wohlige Stimmung machte sich breit. "Du hast geglaubt, da erscheinen gleich Jesus, Maria und Joseph persönlich", erinnert sich Laakmann an das gigantische Gemeinschaftserlebnis. "Das waren die besten Weihnachten, die die Jungs je erlebt haben." Solidarität sei ein großes Wort, ihr Gefühl nahezu unbeschreiblich. Noch heute zehrt der damalige Krupp-Abteilungsleiter von diesem turbulenten Arbeitskampf. "Ich kann nur jedem raten, das Gefühl der Solidarität mal persönlich zu erleben." 

Die Solidarität steckt an im Kampf der Stahlkocher um ihre Rheinhausener Hütte. Ein 256 Meter weiter, rostroter Stahlbogen überspannt die Rheinbrücke zwischen den beiden Duisburger Stadtteilen Hochfeld und Rheinhausen. Am 20. Januar 1988 ziehen 50 000 Stahlkocher aus 63 Hüttenwerken zu dieser Brücke und legen zeitweise den Verkehr im gesamten Ruhrgebiet lahm. Die Prophezeiung aus Laakmanns Brandrede in der Walzwerkhalle scheint sich zu erfüllen: "Vor dieser Woche waren wir noch allein, vor ein paar Tagen war die ganze Belegschaft da. Heute ist es die Stadt Duisburg, und morgen wird es das ganze Revier sein." Die Stahlkocher vom benachbarten Hoeschwerk haben Kühlwasser ihrer Stranggießanlage zur Brücke geschleppt. Die einstige "Admiral-Graf-Spree-Brücke" wird umgetauft: "Brücke der Solidarität" prangt in großen Buchstaben auf einem Schild, das die Jugendvertreter in der Krupp-Lehrwerkstatt über Nacht angefertigt haben. Wenig später hat die Stadt Duisburg diesen Namen offiziell übernommen. 

Zehn Jahre später stand Sabrina Jäger auf der "Brücke der Solidarität". Nicht allein aus eigenem Antrieb war die damals 15-jährige Schülerin aus dem Duisburger Stadtteil Alt-Meiderich dort. Es gab sanften Druck der Eltern und Lehrer. "Die haben uns in die Busse verfrachtet und dorthin gekarrt", erinnert sich Sabrina. Ein "Band der Solidarität" sollte geknüpft werden – von der westlichsten bis zur östlichsten Bergarbeiterstadt im Ruhrgebiet. Zehntausenden Kohlekumpels nämlich drohte Schicht im Schacht. Die milliardenschweren Kohlesubventionen von Bund und Land sollten drastisch gekürzt und etliche Zechen geschlossen werden. Sabrina verstand die komplexen Hintergründe der Demonstration kaum. Aber das Gemeinschaftserlebnis unter den vielen Tausenden Menschen rührte sie an. Ein kleines Stück von dem "Band der Solidarität" nahm sie mit nach Hause.

Immer noch bewahre sie dieses Solidaritäts-Souvenir auf, sagt Sabrina. Inzwischen ist sie 24 Jahre alt und Vorsitzende der Jugend- und Ausbildungsvertretung (JAV) bei der Deutschen Rentenversicherung. Die gelernte Sozialversicherungsfachfrau sitzt in der Bochumer Zentrale der ehemaligen Bundesknappschaft, einer Kranken-, Pflege- und Ren-ten-versicherung für Bergleute. Unter dem Dach der Rentenversicherung kümmert sich die Knappschaft inzwischen auch um Bundes-bahner, Seeleute und 400-Euro-Jobber. Gleich zu Beginn ihrer Berufsausbildung ist Sabrina in die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di eingetreten. Auf Ratschlag ihrer Eltern, die beide dem bürgerlichen Angestelltenmilieu entstammen. "Da wirst du mal schön Mitglied, Tochter!", habe ihr der Vater gesagt. 

Schnell hat Sabrina als Gewerkschafterin Karriere gemacht. Seit dem vergangenen Jahr ist sie als JAV-Vorsitzende von der Arbeit freigestellt und kümmert sich bei der Knappschaft ausschließlich um die Belange von 800 Jugendlichen. Die 24-Jährige sitzt in einem In-Lokal im Duisburger Hafen, löffelt eine Käsesuppe und trinkt Milchkaffee. Dass der Funktionärsapparat und die Rituale der Gewerkschaften für Jugendliche reichlich antiquiert seien, mag sie nicht zugeben. "Die Ge-werkschaftsarbeit ist schon spannend." Die toughe Gewerkschaftsfrau trägt ein brau-nes Cord-jackett, Jeans, ein grau-rotes, perlen-besticktes T-Shirt und schwarze Stoffturnschuhe. Allein ihre offenkundig auf Gewerkschaftsseminaren antrainierte Rhetorik kontrastiert bisweilen mit dem trendigen Out-fit. "Ich bin Jugendvertreterin durch und durch." 

In ihrem Funktionärsjob kümmert sich Sabrina nicht nur um innerbetriebliche Konflikte. Die "Rente mit 67" treibt sie um, "weil wir Jugendlichen das alles voll abbekommen". Dass der Telekom-Konzern Zehntausende Arbeitsplätze auslagern will, besorgt sie. Auch der zunehmende Rechtsextremismus. Nicht alle ihre jungen Kollegen blicken so weit über den politischen Tellerrand. Denen geht es zu-allererst um die Qualität der Ausbildung, die Höhe der Ausbildungsvergütung und ihre Übernahme in das Unternehmen nach Ab-schluss der Lehre. Um das durchzusetzen, bringt die Gewerkschaft hin und wieder eine pfiffige Solidaritätsaktion auf die Beine. Doch auch Sabrina sieht unter ihren Altersgenossen Tendenzen zu Vereinzelung und Ellenbogenmentalität. Manchmal ist sie richtig ratlos. "Verdammt noch mal, wo ist die Solidarität hin?" Klassische Gewerkschaftsarbeit ist den meisten Jugendlichen eher fremd. Der Marsch zum 1. Mai gilt als megaout. Aber Sabri-na will am "Tag der Arbeit" und anderen Gewerkschaftsritualen beharrlich festhalten. "Wir müssen das für Jugendliche eben prickelnd machen", verlangt sie.

Derzeit sind 550 000 junge Bundesbürger im Alter zwischen 16 und 26 Jahren Mitglied in einer Gewerkschaft des DGB, des Deutschen Gewerkschaftsbunds. Nach einer aktuellen Jugendstudie der IG Metall engagieren sich lediglich etwa zehn Prozent der Jugendlichen in Gewerkschaften. Laut Umfrage gibt es in der jungen Generation "eine große Unkenntnis" über die Gewerkschaftsarbeit. Häufig verwechselten Jugendliche den Betriebsrat mit den Gewerkschaften. Durch die Korruptionsaffäre etlicher VW-Betriebsräte, die sich von dem Unternehmen durch die kostenlose Zuführung von Prostituierten kaufen ließen, hat das Image der Gewerkschaften gerade bei Jugendlichen massiv Schaden genommen.

Helmut Laakmann, der einstige Arbeiterführer aus Rheinhausen, könnte Sabrinas Vater sein. Beide trennen nicht nur eine Generation, sondern auch unterschiedliche Erfahrungen. Bei den wilden Streiks um die Erhaltung des Krupp-Stahlwerks haben die Gewerkschaftsfunktionäre weitgehend abseitsgestanden. "Die IG Metall hatte nicht mal mehr rote Fahnen für uns", klagt Laakmann. Für die Gewerkschaftsführung war der Rheinhausener Arbeitskampf mit seinen spektakulären Solidaritätsaktionen unkalkulierbar geworden. Die IG Metall ging auf Distanz. Zwar haben Laakmann und seine Kollegen den Tod des Stahlwerks im Jahre 1993 nicht verhindern können. Immerhin aber haben sie die Schließung um sechs Jahre hinausgezögert und in dieser Zeit für alle Beschäftigten einen Sozial-plan durchgesetzt.

Der Begriff der Solidarität werde von den Gewerkschaftsführern missbraucht, behauptet Laakmann. "Solidarität wird zum Vorwand genommen, um Kritik am eigenen Apparat im Keim zu ersticken." Dennoch ist Laakmann seit vierzig Jahren Mitglied der IG Metall. Selbst in seinem neuen Job als Öffentlichkeitsarbeiter beim Johanniter-Rettungsdienst ist der frühere Stahlwerker seiner angestammten Gewerkschaft treu geblieben. Noch habe er die Hoffnung nicht aufgegeben, "dass da mal die Fenster geöffnet werden und durchgelüftet wird". Dazu aber müssten die Gewerkschaftsmitglieder endlich "ihr Versicherungsdenken aufgeben" und sich "ak-tiv einschalten" in die Arbeit ihrer Organi-sation. "Solidarität ist die stärkste Waffe", beharrt Laakmann, "nur sie wird oftmals ausgehebelt, weil wir uns auseinanderdividieren und beherrschen lassen."