Ekaterina Karabasheva ist Spezialistin für Digital Health. Sie litt zwei Jahre lang selbst an Magersucht und hat sich im Rahmen ihrer Masterarbeit die Essstörungs-App „Jourvie“ ausgedacht. Die App wurde dann gemeinsam mit einem Ärzteteam der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Charité – Universitätsmedizin Berlin entwickelt und soll Menschen mit Magersucht, Bulimie oder Esssucht in der Therapie unterstützen.
Fluter.de: Frau Karabasheva, wie sind Sie auf die Idee mit der App gekommen?
Ekaterina Karabasheva: Ich war vor einigen Jahren selbst magersüchtig, und während meiner Therapie musste ich kontinuierlich Essprotokolle auf Papier ausfüllen. Die waren ähnlich wie Excel-Tabellen, ich habe sie jede Woche mit meiner Therapeutin besprochen. Darin ging es vor allem darum, was ich wann gegessen habe und welche Gefühle das bei mir ausgelöst hat. Diese unhandlichen Blätter musste ich immer dabeihaben und auch unterwegs ausfüllen.
Mit dieser Loseblattsammlung war das eher eine Pflichtübung?
Nicht nur das. Das war mir in Gegenwart von Freunden, Bekannten oder Kollegen teils auch peinlich, deshalb habe ich das oft auch nicht gemacht.
Und was sind die Vorteile einer App?
Das Smartphone hat man ja den ganzen Tag dabei. Das Essverhalten kann damit diskret, schnell und zeitnah festgehalten werden. Das ist weniger umständlich. Neben der Möglichkeit der Archivierung können auch Daten für den Therapeuten heruntergeladen, per E-Mail versendet oder ausgedruckt werden. Bei der Datenauswertung lassen sich gut Verhaltensmuster erkennen. Außerdem hat die App eine Erinnerungsfunktion, damit das Essprotokoll nicht vergessen wird.
Wie funktioniert die?
Das ist ein Erinnerungssatz, den man sich frei wählen kann, und der mehrfach am Tag auf dem Display erscheint. Manche nutzen ihn auch, um sich daran zu erinnern, etwas zu essen. Bei manchen kommen auch Sätze wie „Du bist schön“ oder Ähnliches. Eine weitere wichtige Funktion sind die Bewältigungsstrategien.
Was ist das?
Es handelt sich um Tipps und Tricks für schwierige Situationen wie Heißhungerattacken, Drang zum Überessen oder Drang zum Erbrechen. Und die App bietet auch Motivationsstrategien, wenn man mal den Kopf hängen lässt oder Stress bewältigen muss.
Besteht nicht die Gefahr, dass die App mit ihren perfekten Oberflächen einen Nutzer in falscher Sicherheit wiegt? Dass die App als Therapieersatz begriffen wird?
Ganz klar: Die App ist für Nutzer gedacht, die in Therapie sind. Für Leute, die sich so weit mit der Krankheit beschäftigt haben, dass sie den Mehrwert der App nutzen können. Übrigens: Der Mehrwert liegt nicht darin, dass man sehen kann, wie wenig man gegessen hat! Natürlich könnten Einzelne diese App so missbrauchen. Leider. Aber diese Gefahr besteht immer, auch beim Papierprotokoll. Wir hoffen, dass wir durch unsere Ansprache die Leute erreichen, die gesund werden wollen.
Wie sind die Reaktionen von Nutzern?
Wir haben bisher sehr positive Rückmeldungen erhalten. Die Betroffenen äußern viele Wünsche, die noch mehr in die motivierende Richtung gehen. Gewünscht werden Bilder, Videos und Musik. Die Nutzer legen großen Wert auf Ästhetik, wohl weil sie die App jeden Tag nutzen.
Sind weitere Funktionen geplant?
Wir arbeiten an technischen Möglichkeiten für einen Austausch, etwa eine Art Panic-Button, den man in einer akuten Situation betätigen kann und der dann den Kontakt zu einer Vertrauensperson des Nutzers herstellt. Den großen Wunsch nach einer Community-Funktion gab es unter den Nutzern bislang nicht, vielleicht weil ein Austausch in schon bestehenden Communitys stattfindet. Wir hoffen aber, dass es ein Nebeneffekt der App sein wird, dass Menschen miteinander über Essstörungen sprechen.
Haben Therapeuten die App schon für ihre Arbeit entdeckt?
Das ist bisher sehr unterschiedlich. Wir stellen auf medizinischen Kongressen die App vor. Dabei merken wir, dass die Bereitschaft für das Nutzen einer App von Therapeutenseite derzeit geringer ausfällt als bei den Betroffenen. Wir arbeiten an der Verbesserung der Schnittstelle zwischen Therapeut und Patient. Ein möglicher direkter Zugang von Seiten der Therapeuten auf die Daten wirft natürlich Datenschutzfragen auf.
„Jourvie“ ist ein gemeinnütziges Projekt, wie finanziert es sich?
Wir konnten die App aufbauen im Rahmen des Förderprogramms „PEP“ der Non-Profit-Organisation Ashoka, das von SAP ermöglicht wird. Das lief ein Jahr. Momentan suchen wir nach neuen Fördermitteln. Langfristig soll „Jourvie“ mit Krankenkassen kooperieren.
Soll „Jourvie“ immer ein Non-Profit-Projekt bleiben?
Es ist nicht unser Hauptziel, Geld zu erwirtschaften – aber wir müssen wirtschaftlich sein, um unsere Arbeit und die App nachhaltig finanzieren zu können. Wir sind gemeinnützig, also werden alle Gewinne wieder in die Entwicklung der Organisation investiert.
Ekaterina Karabasheva, Jahrgang 1989, wurde in Bulgarien geboren. In ihrer Jugend schrieb sie Gedichte und Kurzgeschichten. Dann studierte sie Medien- und Kommunikationswissenschaften in Trier und Berlin. „Jourvie“ ist ein gemeinnütziges Projekt, das sie gemeinsam mit ihren zwei Mitstreiterinnen Verena Porsch und Anne-Laure Gestering betreibt. Ekaterina arbeitet neben ihrem ehrenamtlichen Engagement bei „Jourvie“ im Bereich Digital Health. Die „Jourvie“-App wurde im Januar 2015 erstmals vorgestellt und hat derzeit rund 1.200 regelmäßige Nutzer. Sie ist gratis als Android-Version im Google Play Store erhältlich, eine Version für iOS/Apple soll entwickelt werden.
Essstörungen – kurz erklärt
Früher galten Essstörungen als „typisch weibliche“ Erkrankungen, die nur Mädchen und Frauen betrafen. Heute erkranken in zunehmendem Maß auch Jungen und Männer, doch häufiger sind immer noch Mädchen und Frauen davon betroffen. Essstörungen können prinzipiell in jedem Alter auftreten, aber im Jugendalter – vor allem in der Pubertät – ist die Gefahr, eine Essstörung zu entwickeln, größer.
Im Wesentlichen werden folgende drei Hauptformen unterschieden: Anorexie (Magersucht), Bulimie (Ess-Brech-Sucht) und Binge-Eating-Störung (Esssucht). Nicht alle Essstörungen lassen sich diesen Formen zuordnen. Die Wissenschaft geht davon aus, dass die unspezifischen und untypischen „sonstigen Essstörungen“ sogar häufiger auftreten als die drei klassischen.
Hintergrund von Essstörungen können laut Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) Lösungsversuche für tiefer liegende seelische Probleme oder Ausweg, Flucht oder Ersatz für verdrängte Gefühle und Bedürfnisse sein. Aber auch stummer Protest oder Ablehnung können sich in Essstörungen äußern. Essstörungen haben gravierende körperliche und seelische Folgen und können sogar tödlich enden.
Die BZgA bringt auf ihrer Website Zahlen zur Häufigkeit von Essstörungen. Zitiert wird eine Studie des Robert-Koch-Instituts zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS). Danach leiden 1,5 Prozent der Frauen und 0,5 Prozent der Männer unter einer der drei Hauptformen von Essstörungen. In der Altersgruppe der 13- bis 18-Jährigen sind Essstörungen laut einer US-Studie am häufigsten (Mädchen 2,4 Prozent, Jungen 0,9 Prozent). Bei einem Fünftel der Kinder und Jugendlichen zwischen 11 und 17 Jahren finden sich Hinweise auf ein gestörtes Essverhalten, ergab die Kinderstudie (KiGGS) des Robert-Koch-Instituts. Wobei Mädchen fast doppelt so häufig betroffen sind wie Jungen.