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Die A 40 trennt Essen in arm und reich

Essen, A40

Stau auf der A 40. Wie so oft auf dieser Autobahn, die Ruhrschnellweg heißt, obwohl sie weder ein Weg ist noch schnell. Einwohner und sich Stauende nennen sie nur „Ruhrschleichweg“.

Hier am Essener Wasserturm schleichen sie vierspurig mitten durch die Stadt. Große graue Wände sollen die Menschen schützen, die mit Blick auf die Autokolonnen leben. Und sich über gelegentliche Vollsperrungen freuen, weil dann mal Ruhe ist.

Die A 40 teilt das Ruhrgebiet, teilt Essen, teilt vor allem aber die Menschen, die hier leben, sagt der Soziologe Volker Kersting. In arm und reich, in gebildet und ungebildet, in erwerbstätig und prekär beschäftigt oder Arbeit suchend, in Menschen mit Zuwanderungsgeschichte und Menschen ohne. Für Kersting ist die A 40 mehr als eine Autobahn: Sie ist ein Sozialäquator.

Der Bruch hat sich zuletzt noch verstärkt

Diese Teilung macht Kersting vor allem an vier Faktoren fest: Armut, Mobilität, Bildung und Wahlbeteiligung. In jedem Bereich beobachtet er einen Bruch zwischen Norden und Süden, der sich in den vergangenen Jahren noch verstärkt hat. Das Phänomen, das die Stadt Essen auseinanderdriften lässt, nennen Forschende „sozialräumliche Segregation“. Die ist in vielen deutschen Städten ein Problem, in Essen wird sie nur besonders sichtbar.

Als 1955 der erste Abschnitt der Autobahn eröffnet wurde, konnte man im Bergbau gut verdienen. Viele zogen in den Norden. Die A 40 sei erst später zu der sozialen Grenze geworden, die sie heute ist, sagt Kersting. Heute lasse die Betonwüste den angrenzenden Stadtvierteln aber keinen Raum für Handel, Kultur oder Austausch. „Beiderseits der A 40 bilden sich eigenständige Milieus, die sich kaum mehr berühren.“

Besonders betroffen von der Segregation sind Kinder und Jugendliche. In Essen lebte 2022 mehr als die Hälfte der jungen Menschen in den armutsbetroffenen Quartieren nördlich der A 40. Einige Hundert von ihnen gehen zur Hüttmannschule in Altendorf. Früher dominierte der Bergbau den Bezirk, Thyssenkrupp hat bis heute eine eigene Haltestelle.

Christian Kowalski ist schon da. „Willkommen in einem Haus, das es eigentlich nicht mehr geben sollte“, grüßt der Sozialarbeiter um Viertel vor acht. Er zeigt auf den Containerbau mit Flachdach. „Asbest“, sagt Kowalski. Aber weil es zu viele Schülerinnen und Schüler gibt, kann die Schule nicht auf das Gebäude verzichten. Umbauen oder in die Wände bohren dürfen sie nicht. Die Tafel im Klassenzimmer hat Kowalski kurzerhand mit Montagekleber befestigt.

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Essen
Tristesse im Norden …

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Essen
… Noblesse im Süden, wie hier in der Villa Hügel

Eine Grundschulklasse wartet auf ihn. Wenn alles glattläuft, gehen die Kinder ab Sommer auf eine weiterführende Schule. Jetzt sollen sie erst mal Spielkarten vom Boden nehmen, die zu ihrer Stimmung passen. Aarau ist müde, Massin hat Angst vor einem Test, Damian ist traurig, dass er hier ist und nicht am Smartphone.

Insgesamt besuchen die Hüttmannschule mehr als 400 Kinder mit 40 Nationalitäten. Für 90 Prozent gehe es danach an der Gesamtschule weiter, sagt Kowalski. Forschende sagen, hier sei an der Postleitzahl eines Erstklässlers fast sicher abzulesen, ob er später aufs Gymnasium geht.

Das Ende des Bergbaus beschleunigte die Teilung

Gleich wird deutlich: Die Verständigung ist ein Problem. In den Klassen seien etwa zwei von 30 Kindern mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen, sagt Kowalski. Durch YouTube und TikTok sprechen die meisten besser Englisch als Deutsch. Um 8.45 Uhr klingelt es zur Pause. Ein Teil der Klasse geht auf den Schulhof. Weil es so viele Schülerinnen und Schüler gibt, gehen sie in zwei Durchgängen.

Die Klassengröße ist eines der wenigen Probleme, für das Kowalski keine Lösung zu kennen scheint. Der aktuelle Jahrgang Erstklässler war der erste mit fünf Klassen: 1 a bis 1 e. Zur Einschulung hatten trotzdem 30 Kinder aus dem Einzugsgebiet keinen Schulplatz, erzählt Kowalski. In Altendorf sind die Mieten überwiegend niedrig. Vielen ärmeren Familien bleibt kaum eine andere Wahl, als ebenfalls in den dicht besiedelten Stadtteil zu ziehen.

Was heißt hier Armut?

Armut wird verschieden definiert. Allgemein gültig ist die Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Armut. Absolut arm ist, wer seine Grundbedürfnisse nicht befriedigen kann: Nahrung, Kleidung, Wohnraum, medizinische Versorgung. Relativ arm ist, wer von der Lebensweise ausgeschlossen ist, die im jeweiligen Land als Minimum gilt. Zum Beispiel weil das Geld für gesundes Essen fehlt, für einen Kinobesuch oder Geburtstagsgeschenke. In der EU wird Armutsgefährdung an relativer Armut gemessen.

Volker Kersting sieht in der Segregation eine Folge des Strukturwandels, der vom Staat nicht genügend aufgefangen und begleitet wurde. In den Nullerjahren sind die meisten Zechen im Ruhrgebiet bereits stillgelegt. Eine Kränkung für Generationen, die vom Bergbau gut leben konnten und sich mit ihm identifizierten. Und ein Armutsrisiko für die Nachkommen vieler Bergarbeiterfamilien: Ohne Bergbau und Schwerindustrie waren plötzlich kaum noch Arbeitsplätze da. Gleichzeitig seien die Sanktionen für Arbeitslose im Zuge der sogenannten Hartz-Reformen verschärft worden, sagt Kersting. Tausende fielen ins „Bergfreie“, wie man hier sagt. Und hängen vielfach bis heute in der Schwebe zwischen Arbeitslosigkeit und Niedriglohnjobs.

„Die soziale Benachteiligung wird von den Menschen durchaus wahrgenommen“, sagt Kersting. Der Unmut zeige sich unter anderem im Wahlverhalten. Die ärmeren Viertel im Norden haben die höchsten Anteile an Nicht- und AfD-Wählern in Essen. Kersting versteht das als Protestwahl.

Wenn er sich etwas wünschen könnte, wäre es finanzielle Unterstützung und frühe Sprachförderung. Kersting erzählt von Sportgutscheinen für Kinder aus armen Familien: Die Forschung habe ergeben, dass das Sprach- und Sozialverhalten bei der Einschulung deutlich ausgeprägter ist, wenn die Kinder früh in Sportvereinen aktiv sind. „Und die Kinder aus den Vierteln nördlich und südlich der A 40 brauchen Orte, an denen sie zusammenkommen können.“

Sozialarbeiter Kowalski wünscht sich halb so große Klassen und doppelt so viel Personal. Weil Kowalski weiß, dass das Wünsche bleiben werden, ist weiter sein Pragmatismus gefragt. Die Vergleiche zwischen Nord und Süd bringen ihm im Schulalltag nichts: „Ich schaue, was ich hier machen kann.

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Klassenlehrerin Fabienne Cinzano

Klassenlehrerin Fabienne Cinzano

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Sozialarbeiter Christian Kowalski

Sozialarbeiter Christian Kowalski

Im Klassenraum wird es laut: Fabienne Cinzano kann ihrer Klasse eine deftige Ansage machen, ohne unfreundlich zu wirken. Cinzano, 38, ist die Klassenlehrerin und heißt eigentlich anders. Als sie vor zwölf Jahren nach Essen zog, habe man ihr geraten, nur unterhalb der A 40 nach einer Wohnung zu suchen. Cinzano liebt ihren Beruf. Aber ihren Sohn würde sie hier nicht zur Schule schicken.

„Überall gibt es Defizite, weil viele Kinder keinen Kindergarten besucht haben“, sagt Cinzano. Ihnen fehle oft Impulskontrolle, sie können sich kaum konzentrieren, einige halten in der Schule zum ersten Mal einen Stift oder eine Schere in der Hand. Cinzanos Erfahrung nach können im Schnitt etwa vier Kinder pro Klasse schwimmen. „Das ist politisches Versagen über Jahrzehnte.“ Die Eltern ihrer Grundschulkinder seien die, die finanzielle Unterstützung und Beratung bräuchten, aber nicht bekommen. Im Süden wiederum hätten viele Eltern die Zeit und das Geld, sich um Nachhilfeunterricht zu kümmern oder einen Platz im Schwimmkurs zu zahlen. An der Hüttmannschule kauft Cinzano die Unterrichtsmaterialien gelegentlich selbst.

Das Gerede vom „Sozialäquator“ mögen nicht alle

Ein paar Hundert Meter weiter bauen Laura Schöler und ihre Kollegin Tische und Bänke vor einem Wohnhaus auf. Auf der Ladefläche ihres Lieferwagens ist eine kleine Küche montiert, in der sie jetzt Wasser kochen. Als erster Gast macht es sich eine ältere Frau mit Früchtetee und Zigarette auf der Bank gemütlich, während ihr Enkel mit dem Nachbarskind spielt.

Schöler und ihr Team von Mobilitea kommen seit zwei Jahren her, immer mittwochs gibt es kostenlosen Tee. „Altendorf ist ein kinderreicher Bezirk“, sagt Schöler, „hat aber den schlechtesten Ruf in ganz Essen.“ Ihr Ziel sei, dass Bewohnerinnen und Bewohner ins Gespräch kommen und sich bei Problemen helfen können.

Dieser Text ist im fluter Nr. 90 „Barrieren“ erschienen

So wie Emine. Sie ist 2009 nach Altendorf gezogen. Ursprünglich kommt sie aus der Türkei, aus der Hafenstadt Zonguldak, und hat vier Kinder. Ihr jüngster Sohn rennt um den Klapptisch und klaut seiner Mutter das Smartphone, um bei seinen Brüdern einen Döner in Auftrag zu geben. Sie komme gerne zu diesem Treff, sagt Emine, um mit den Nachbarinnen zu quatschen. Gerade lässt sie sich von ihrem Mann scheiden. Manchmal zeigt sie Laura Schöler die Briefe vom Anwalt, weil sie die Hilfe einer Deutsch-Muttersprachlerin braucht.

Die Leier vom Sozialäquator mag Schöler nicht. Wenn man den Leuten hier den miesen Ruf ihres Viertels ständig vorhalte, verstärke man die Unterschiede nur. „Altendorf ist ja keine No-go-Area.“

Obwohl sie solche Zuschreibungen für Quatsch hält, kommt Schöler selbst darauf zurück. Sie kommt aus dem Süden Essens. „Wenn dort eine Flüchtlingsunterkunft geplant wird, fragen die zuerst, wie hoch der Zaun sein wird.“ Die Leute dort gehen ihr gelegentlich auf die Nerven, sagt Schöler. Sie hat studiert, das mobile Begegnungscafé Mobilitea war ihr Abschlussprojekt.

Volker Kersting kennt die Kritik am Sozialäquator A 40. Ihm wird häufig vorgeworfen, er wolle nur das Ruhrgebiet, den Strukturwandel und die SPD schlechtreden, die das Land jahrzehntelang regiert hat. Universitäten, Radwege, Stammtische für Bürgerinnen und Bürger, Kulturprojekte: „Hier wurde viel erreicht“, sagt Kersting, „und wenig gewonnen.“ Die Benachteiligung und Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsteile sei so akut wie vor 30 Jahren. Die vollgestopfte Stadtautobahn biete sich nun mal als Bild an, um diese Probleme greifbar zu machen. Menschen, die nicht von hier kommen, fahren über die A 40 und sind weg. Menschen, die von hier kommen, fahren bis zur A 40 und nicht weiter.

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