5. Mai 1920. Vor dem Bolschoitheater in Moskau hält Wladimir Iljitsch Lenin eine Rede vor Rotarmisten. Er steht auf einem hölzernen Podest, neben ihm, auf einer Treppe zur Bühne: die Genossen Lew Borissowitsch Kamenew und Leo Trotzki. Der Propagandafotograf Grigori Goldstein bringt auf der gegenüberliegenden Seite seine Kamera in Anschlag und drückt ab.
Die kommunistische Oktoberrevolution liegt zu diesem Zeitpunkt zweieinhalb Jahre zurück, die von Lenin angeführten Bolschewiki haben fast das gesamte Russland unter ihrer Kontrolle. 1922 gründen sie die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), die fast 70 Jahre bestehen wird.
Als Lenin, der erste Regierungschef der Sowjetunion, 1924 stirbt, bricht ein Machtkampf um seine Nachfolge aus. Das sogenannte Triumvirat aus Lew Kamenew, Grigori Sinowjew und Josef Stalin setzt sich an die Spitze des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, der Konkurrent Leo Trotzki und seine Anhänger unterliegen. Doch auch das Triumvirat zerfällt kurz darauf: Kamenew und Sinowjew werden zu innerparteilichen Gegnern Stalins und 1927 aus der Partei gedrängt. Leo Trotzki wird im selben Jahr entmachtet und 1929 schließlich ins Exil getrieben. Stalin avanciert daraufhin zum unangefochtenen Alleinherrscher über die Sowjetunion, Kamenew und Sinowjew werden nach Schauprozessen in den 30er-Jahren hingerichtet. Leo Trotzki fällt 1940 in Mexiko-Stadt einem Attentat zum Opfer: Der russische Agent Ramón Mercader erschlägt ihn mit einem Eispickel.
Von dem berühmten Foto Grigori Goldsteins wurde unter Stalins Herrschaft nur ein Ausschnitt verwendet, den rechten Bildteil, der Trotzki und Kamenew zeigt, ließ man einfach weg. Später entfernte man die in Ungnade gefallenen Personen kurzerhand aus der Originalaufnahme und ersetzte sie durch Treppenstufen.
Klassiker der Bildmanipulation
Das Bild Grigori Goldsteins gilt als das klassische Beispiel dafür, wie mit Hilfe von Fotografien historische Begebenheiten verfälscht werden. Und die beiden in diesem Fall angewandten Techniken sind ihrerseits die Klassiker der Bildmanipulation: Zunächst wurde das Foto beschnitten und der unerwünschte Teil der Aufnahme entfernt. Später machte man sich die Mühe, Teile des Bildes mit dem Retuschierpinsel zu verdecken.
Auch wenn sich die technischen Voraussetzungen seit den Zeiten der Sowjetunion stark verändert haben, werden diese beiden Methoden nach wie vor gerne angewandt. Mit Photoshop dauert so etwas heute nur noch ein paar Minuten. Nicht verwunderlich also, dass es auch viele aktuelle Beispiele von manipulierten Fotos gibt. Davon erzählen wir im nächsten Teil dieser Serie.
Tobias Kruse reist seit vielen Jahren mit der Kamera durch die Welt und ist Mitglied der Fotoagentur Ostkreuz. Aus eigener Erfahrung kann er sagen, dass es in der Praxis ziemlich schwer ist, die Grenze zwischen Dokumentation und Inszenierung zu ziehen – denn oft verändert allein die Anwesenheit des Fotografen die Wirklichkeit.