Ein wenig klingt ihre Geschichte wie der Stoff eines Hollywood-Dramas, angereichert mit dem handelsüblichen Pathos. Da ist diese junge Frau, voller Hoffnung und mit dem unbedingten Willen, Schriftstellerin zu werden. Vor fünf Tagen hat sie ihren Universitätsabschluss in Literatur gemacht, nein, nicht irgendwo: in Yale. Und nun ist sie mit ihrem Freund auf dem Weg zum 55. Geburtstag ihres Vaters in das Sommerhaus der Familie auf Cape Cod. Hummer soll es geben und selbst gemachten glutenfreien Erdbeerkuchen. Doch auf der Fahrt dorthin schläft der Freund am Steuer des Autos plötzlich für einen winzigen Moment ein. Der Wagen prallt gegen eine Leitplanke und überschlägt sich zwei Mal. Während der Freund nur leicht verletzt wird, stirbt die junge Frau noch an der Unfallstelle.

Marina Keegan war 22 Jahre alt, als sie im Mai 2012 starb. Während viele andere Uni-Absolventen in ihrem Alter noch unsicher sind und sich ausprobieren, um herauszufinden, wohin sie das Leben führt, wusste Keegan schon ganz genau, was sie wollte: Schriftstellerin werden. „Und zwar eine richtige. Mit Haut und Haar.“ So schrieb sie in ihrer Zeit in Yale mehrere Theaterstücke, viele Gedichte, Essays und Kurzgeschichten, für die sie zahlreiche Preise erhielt. Und auch den ersten Job bei dem Magazin „The New Yorker“ hatte sie bereits sicher.

Zwei Jahre nach dem tödlichen Unfall veröffentlichte Anne Fadiman, ihre Literaturprofessorin in Yale, zusammen mit der Familie Keegans Geschichten und Essays in einem Buch, das in den USA schnell zu einem Bestseller avancierte. Nun liegt auch die deutsche Übersetzung vor.

„Das Gegenteil von Einsamkeit“ ist eine scheinbar lose Sammlung von Augenblicken und Gedanken, in der die Autorin alles verarbeitet, was sie gerade so beschäftigt. Doch was die Geschichten und Essays miteinander verbindet, ist Keegans authentischer Stil. Ihre Charaktere sind oft Studenten, fast alle studieren an amerikanischen Elite-Unis, schreiben oder spielen Theater, so wie die Autorin selbst. Sie heißen Lauren, Brian oder Kyle, haben Spaß und Sex, gehen auf Partys und nehmen auch mal Drogen. Dazu schlagen sie sich mit den ganz gewöhnlichen Zweifeln der Generation der Twentysomethings herum: das Hadern mit der Figur, Eifersucht auf die Exfreundin des neuen Freundes oder eben auch mal das Durchstöbern der 700 Facebook-Fotos einer Konkurrentin.

Schreiben über verpasste Chancen

Aber Marina Keegan schreibt auch über die Eltern dieser Studenten, über verpasste Chancen und das Altern, über den plötzlichen Tod des Partners, die Adoption eines Kindes, eine ungewollte Schwangerschaft. Eindrucksvoll etwa nimmt uns Keegan mit in das Innere des US-Soldaten William, der sich im Irak um die Zuteilung von Wohnraum kümmert – in Form von aneinandergereihten E-Mails, die William seiner Freundin nach Hause schickt. Und auch wenn die Geschichte ein wenig zerrissen und unvollständig wirkt, erfahren wir jedes Mal ein Stückchen mehr über die Welt des Soldaten, seine Sorgen und Nöte und geraten mit ihm immer tiefer in Verstrickungen aus Idealismus und Fanatismus.

Marina Keegans Blick auf ihre Figuren ist liebevoll, unverschleiert und nie nostalgisch. Ihre Sprache ist nicht die einer jungen Frau Anfang 20, sondern klingt reifer, erwachsener. Ob Keegan diese Texte selbst auch so veröffentlicht hätte, ist allerdings zu bezweifeln. Sie war eine Perfektionistin, die ihre Geschichten immer und immer wieder umschrieb, daran feilte und sie verbesserte, schreibt ihre Professorin Anne Fadiman im Vorwort des Buches, denn: „ES GEHT IMMER (NOCH) BESSER!“ war Keegans Motto und Antrieb zugleich. Tatsächlich haben viele der Texte den Anschein, als seien sie noch nicht ganz fertig. Doch gerade das macht ihren Reiz aus.

„Auf ihren hohen posthumen Podesten verliert man die Toten leicht aus den Augen. Trauer, Achtung und die homogenisierende Wirkkraft der Bewunderung verwischen die Einzelheiten, glätten die Dellen, schleifen scharfe Kanten“, heißt es weiter im Vorwort. Fadiman schreibt aber auch, dass Marina Keegan trotz ihrer Freundlichkeit und ihres Idealismus „wütend, gereizt und provokant war. Ein bisschen wild. Mehr als ein bisschen nonkonformistisch.“ Ein fast normales Mädchen Anfang 20 eben, nur eben ein bisschen begabter als die meisten in ihrem Alter.