Fast 80 Kinder stehen stramm in einer Reihe. Wenn sie ihren Namen hören, treten sie sofort nach vorn. Mit Daumen und Zeigefinger nehmen sie einige Salzkörner von einem Teller und streuen sie in die Flammen. „So tragt ihr alle zum Feuer des Nationalismus bei“, sagt Campleiter Burek, ein Mann in den Zwanzigern mit Bart und Glatze. Er schüttelt jedem Kind kurz und kraftvoll die Hand – oder besser: den Unterarm.
Das „Regiment Asow“ ist eine radikal nationalistische ukrainische Kampfeinheit, die im Jahr 2014 gegründet wurde, um Freiwillige im Kampf gegen prorussische Rebellen im Osten des Landes zu organisieren, und dem ukrainischen Innenministerium unterstellt. Ihr Symbol: die Wolfsangel, eine heraldische Figur, die auf das Jagdgerät zurückgeht und früher gerne von Nazis benutzt wurde, unter anderem von der Hitlerjugend. Der Kommandeur des Regiments ist der als rechtsextrem geltende Politiker Andrij Bilezkyj, der 2014 vom ukrainischen Innenminister zum Oberstleutnant ernannt wurde.
Im dritten Jahr in Folge organisiert das Regiment Asow auch Camps für Kinder. Dieses Mal sind sie ganz in der Nähe der Hauptstadt Kiew. Innerhalb von zwölf Tagen sollen die Kinder im Alter von 7 bis 15 Jahren lernen, was es bedeutet, als Soldat oder Soldatin fürs Vaterland zu kämpfen.
Das Camp umrandet ein Zaun. Im Lager gibt es Ess- und Schlafräume, eine Kletterwand und einen kleinen Strand an einem Zubringer des Flusses Dnepr. Zu Beginn des Ukraine-Konfliktes haben die Nationalisten das Grundstück von der Regierung bekommen. Damals mussten sie nichts dafür zahlen, denn die Regierung unterstützte die „patriotische Bildung“.
Schon am ersten Tag bekommen die Kinder Kalaschnikows. Tarakan, ein 15-jähriges Mädchen aus Kiew mit langem glatten Haar, braucht nur 25 Sekunden für die Aufgabe: Magazin, Ladehebel und Gaszylinder entfernen, dann alles wieder zusammensetzen. Vorsicht: den Lauf niemals auf eine Person richten. Außer, sagt der Campleiter, du bist sicher, dass du schießen willst.
Die Miliz wurde nach der russischen Annexion der Krim im März 2014 von den nationalistischen Politikern Dmytro Kortschynskyj und Oleh Ljaschko gegründet. Ihren Sitz hat sie im Süden der Verwaltungseinheit Oblast Saporischschja am Asowschen Meer. Die ukrainische Armee konnte sich nicht länger gegen die prorussischen Separatisten behaupten, also stiegen Freiwillige in den bewaffneten Konflikt mit ein. Finanziert wurden sie von wohlhabenden ukrainischen Geschäftsmännern. Im Sommer 2014 half das Regiment, Teile der Stadt Mariupol von prorussischen Kämpfern zu befreien. So wurde die Miliz im Land berühmt. Seit Herbst 2014 untersteht das Regiment Asow dem Innenministerium und ist damit Teil der Nationalgarde.
Die Jugendlichen tragen Militäruniformen, wenn sie zum morgendlichen Appell antreten. Auf Befehl ziehen sie ihre Schildmützen aus. Sie ballen ihre Fäuste vor der Brust und sprechen im Chor: „Ukraine, heilige Mutter der Helden, komm in mein Herz. Möge meine Seele von dir erweckt und erleuchtet sein von deiner Herrlichkeit. Du, Heilige der Heiligen, bist mein Leben und mein Glück.“ Dann wird die Flagge gehisst: blau und gelb für die Ukraine mit dem Bild eines stolzen Soldaten.
Es folgen Geschichtsunterricht und Kurse, in denen die Teilnehmer über Zäune steigen, an Seilen und Leitern hinaufklettern und Techniken für den Kampf auf einem Schlachtfeld üben. „Wir lernen hier, wie sich Soldaten an der Front fühlen und verhalten“, sagt Tarakan. „Und wie wir im Wald oder der Wüste überleben. Wir haben auch Erste-Hilfe-Kurse und lernen etwas über Militärtaktiken. Das sollte jeder können.“
„Mein Vater hat mir einen Flyer vom Camp gezeigt“, sagt der 14-jährige Rostislav. „Ich fand das cool und fragte meinen besten Freund, ob er auch mitkommt.“ Warum so viele Kinder diese Camps besuchen? „Weil wir uns in einem Krieg befinden“, sagt Rostislav.
„Man kann Asow radikal nennen“, sagt ein junger Mann namens Gold, ein Kampfname, wie ihn viele hier tragen. Gold leitet die Jugendabteilung des Regiments. Er ist enttäuscht vom mangelnden Engagement seiner Mitbürger. „Nur zehn Prozent der Ukrainer sind als Soldaten oder Freiwillige im Krieg. Der Rest kümmert sich nur um den Alltag. Sie denken nicht an die Zukunft ihrer Kinder.“
Im Oktober 2016 hat das Regiment Asow eine Partei gegründet, die „Nationalkorps“. Die Jugendcamps seien nur ein Beispiel für den Krieg des Regiments an der „zweiten Front“, wie Gold seinen rechten Aktivismus nennt. Diesen Sommer haben 400 Kinder und Jugendliche ein Camp besucht. Mehr als die Hälfte sind Kinder von Mitgliedern des Asow-Regiments. Während der Schulzeit besuchen Asow-Mitglieder sogar Schulklassen. Im vergangenen Frühling haben etwa 600 Kinder in der Schule einen Tag der Militärausbildung mitgemacht.
Rostislav sieht die harte Linie des Regiments auch kritisch: „Ich mag das Gebet ans Vaterland nicht. Nationalismus kann zu Faschismus führen, und das ist schlecht. Wenn das Camp weniger nationalistisch wäre, wäre es das beste Camp der Welt“, sagt er.
„Nach dem Camp werde ich nicht losziehen und Leute erschießen“, sagt Tarakan. Sie will Physik und Mathematik studieren und Lehrerin werden. Rostislav möchte nach der Schule für ein Jahr in die USA gehen, um sein Englisch aufzubessern. Er will Übersetzer werden.
Plötzlich ertönt ein Pfiff. Tarakan und Rostislav eilen zum Appell. Wenn der Staub nach einem ereignisreichen Tag im Camp wieder zu Boden sinkt, ertönt noch einmal der gebetsartige Chor: „Verbrenne all die Schwäche aus meinem Herzen, damit ich keine Angst und keinen Zweifel habe. Mache meinen Geist stark.“ Dann wird die Flagge eingeholt, die Flammen noch einmal entzündet. Am Abend sieht alles aus wie in jedem anderen Zeltlager: Die Kinder sitzen ums Lagerfeuer, weit weg von einem Krieg, der ihr Land Tag für Tag verändert.