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„Den Eltern wird die Armut noch als Schwäche ausgelegt“

Warum der soziale Aufstieg für viele immer noch so schwer ist? Die Sozialwissenschaftlerin Gerda Holz hat ein paar Antworten

fluter: Wie wird man arm in einem reichen Land wie unserem?

Gerda Holz: Wenn wir von Armut sprechen, meinen wir relative Armut. Niemand verhungert, aber wer Hartz IV bekommt oder unter 60 Prozent des mittleren Haushaltsnettoeinkommens zur Verfügung hat, gilt als armutsbetroffen. Ursachen sind Arbeitslosigkeit, zu geringe Löhne, aber auch Zuwanderung. Gerade Menschen, bei denen ein Asylverfahren läuft, haben kaum Handlungsspielraum. Viele dürfen nicht arbeiten und leben von staatlichen Zuwendungen. Andere werden von Krankheiten gebremst oder auch von Trennungen. Viele alleinerziehende Frauen leben in Armut.

Warum ausgerechnet die?

Es gibt keinen Partner, der hilft, oder die Unterhaltszahlungen bleiben aus. Oft fällt sogar ein ganzes Familiensystem weg. Dazu fehlt es an Geld, weil Frauen wegen fehlender Kinderbetreuung häufig nicht arbeiten können oder nur in Teilzeit. Es gibt zwar einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz, aber der wird zurzeit nicht immer erfüllt.

„Oft wird bei der Einteilung auf die Schulformen auch nach dem finanziellen Hintergrund der Eltern gefragt“

Kinder, die in armen Verhältnissen aufwachsen, bleiben relativ oft arm. Was bremst ihren sozialen Aufstieg? 

Abitur, Mittlere Reife, am besten ein Studium: Wenn solche Abschlüsse fehlen, droht der soziale Abstieg. Dabei wird schon bei der großen Selektion nach der Grundschule – wer kommt aufs Gymnasium, wer nicht – wenig Rücksicht darauf genommen, dass sich Kinder unterschiedlich entwickeln. Oft wird bei der Einteilung auf die Schulformen auch nach dem finanziellen Hintergrund der Eltern gefragt. Denen wird ihre Armut dann noch als Schwäche ausgelegt und als nicht bewältigbare Belastung für die weitere Schulkarriere der Kinder.

Wie kann man ihnen denn helfen?

Die Teilhabe an allem muss im Kindergarten losgehen und sich in der Schule verfestigen. Dazu gehören neben Kitaplätzen und Bildungsangeboten auch Mittagessen und Freizeitmöglichkeiten – und all das kostenfrei für Familien mit geringen Einkommen. Eine andere Frage ist: Ist die Schule eine Lehrerschule oder eine Schülerschule? Geht es also vor allem um den Arbeitsplatz der Erwachsenen oder um einen Lern- und Lebensort für die Kinder?

Wie haben sich die Probleme durch die Pandemie verschärft?

Die Defizite haben sich klar gezeigt. Viele Schulen hatten nicht mal die digitale Ausstattung für ein vernünftiges Homeschooling. Aber es braucht nicht nur diese Hardware, sondern auch mehr Ausbildung für Lehrerinnen und Lehrer und Konzepte, die die Schule zu einem Lebens- und nicht nur Lernort machen. Beim Wettbewerb um die beste Schule Deutschlands zeigen uns Schulen, wie es geht. Diese Schulen sind immer um die Teilhabe aller bemüht, meist auch um Angebote für die ganze Familie.

„In der Pandemie sind viele Preise gestiegen, zum Beispiel für Toilettenpapier. Der Hartz-IV-Satz ist aber gleich geblieben“

Leben ärmere Menschen generell risikoreicher?

In der Pandemie haben sich Geringverdienende häufiger mit Covid-19 infiziert und schwerere Krankheitsverläufe gehabt. Sie hatten zu wenig Platz in der Wohnung, keine Möglichkeit für Homeoffice oder um außerhalb der Wohnung – etwa im Grünen – Stress abzubauen. Durch das Schließen von Kitas und Schulen gab es plötzlich für viele Kinder kein Mittagessen mehr, für das nun die Eltern zusätzlich sorgen mussten. In der Pandemie sind viele Preise gestiegen, zum Beispiel für Toilettenpapier. Der Hartz-IV-Satz ist aber gleich geblieben. Je stärker die Eltern belastet sind, desto mehr Druck spüren die Kinder. Das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf hat festgestellt, dass die psychische Belastung von Kindern im vergangenen Jahr stark zugenommen hat. Ich bin sprachlos, wie wenig das Thema soziale Ungleichheiten ein Teil von Pandemiebekämpfung ist.

Wie wirken sich Klimawandel und Klimapolitik auf ärmere Menschen aus?

Arme Menschen sind oft stark von den Folgen des Klimawandels betroffen. Die Erwärmung der Städte betrifft vor allem dicht besiedelte Viertel – zum Beispiel Hochhaussiedlungen. Dort ist die Luft stickiger als dort, wo die Häuser mit Gärten stehen. Auch Spielplätze und Grünanlagen findet man viel häufiger in besseren Wohnbezirken. Mit Maßnahmen gegen den Klimawandel verringert man auch die Risiken für Armutsbetroffene.

Gerda Holz forscht seit vielen Jahren am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt zum Thema Kinderarmut

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.