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Jugend ohne Netz

Angela Lehners Roman „2001“ kommt pünktlich zum Revival der Nullerjahre und erzählt wie es war, in der Provinz aufzuwachsen, bevor man online Gleichgesinnte finden konnte

  • 4 Min.
2001, Angela Lehner

Wo sind wir?

Wir schreiben, Überraschung, das Jahr 2001. Die Twin Towers stehen noch stabil in Manhattan und unter den abgehängten Jugendlichen aus Tal, einer Kleinstadt in Österreich, sind Millimeteraugenbrauen, Bauchnabelpiercings unter offenen Snowboardjacken, literweise Skol-Bier und VIVA in Mode. Die Erwachsenen in Tal haben währenddessen wenig Muße für irgendwelche Moden: Die Globalisierung frisst ihre Arbeitsplätze. Es ist die Zeit der Euro-Umstellung und auch das Jahr, die konservative Volkspartei erstmals mit der rechtspopulistischen FPÖ eine Regierung bildet. Protagonistin Julia Hofer, ungefähr vierzehn Jahre alt (und damit so alt wie Autorin Angela Lehner selbst zu dieser Zeit, die wie ihre Hauptfigur aus der österreichischen Provinz stammt), beobachtet diese Geschehnisse wachsam, ohne alle Zusammenhänge genau zu durchblicken. Als etwa ein Bild der Vereidigung der rechtskonservativen Regierung unter ÖVP-Bundeskanzler Schüssel durch den sozialdemokratischen Bundespräsidenten Klestil in den Nachrichten ist, beschreibt Julia das so: „Links der Schüssel, der dem Haider rechts die Hand schüttelt. [...] Klestil schaut über die Kamera, [...] direkt über die Zeitungen in die Welt hinein. [Sein Blick] braucht nicht übersetzt zu werden, er ist in jeder Sprache verständlich: Fickt’s euch alle.”

Worum geht’s?

Julia gehört, sagt sie, zum „Restmüll”: Sie ist eine der schwächsten ihrer Klasse in einer ohnehin schon als leistungsschwach geltenden Hauptschule, interessiert sich vorwiegend für Hiphop und rechnet sich magere Zukunftschancen aus.  Als ein Lehrer im Geschichtsunterricht ein Experiment vorschlägt, lässt Julia das eher kalt – vorerst zumindest. Allen Schüler:innen wird ein Akteur des aktuellen Weltgeschehens zugelost, den sie von da an verkörpern sollen – vom damaligen US-Präsidenten George W. Bush über den Dalai Lama bis zum palästinensischen Politiker Jassir Arafat (den Julia “Jassi” nennt und erst mal für eine Frau hält). Das Experiment gerät außer Kontrolle und verdeutlicht bald, dass sich das Große fast immer auch im Kleinen zeigt: Julia und ihr Freundeskreis erleben den Rechtsruck, den Sexismus und die Armut in ihrer eigenen Kleinstadt plötzlich bewusst, ergründen ihren Hass auf die selbstzufriedenen Erwachsenen und verstehen umgekehrt, dass alles Private im Grunde auch politisch ist. Das Experiment ist dabei nur der erste Funke für ein Lauffeuer an Turbulenzen: Julia stolpert durch blasierte Polizeibefragungen, das Coming-Out ihres Freundes und ein Konzert, bei dem sie erkennen muss, dass sie für die meisten ihrer Hiphop-Idole nie mehr als ein Objekt sein wird. Durch ihre anfangs scheinbar unzerstörbare Clique geht ein Riss und sie formiert sich mehrmals neu, bis um Julia herum schließlich ein harter Kern übrig bleibt, der tatsächlich gemeinsame Werte teilt, statt nur die gemeinsame Herkunft – eben Freundschaft statt nur zweckmäßiger Allianz.

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2001, Angela Lehner
Von Millenial zu Millenials: Wer 2001 in vollen Zügen genießen will, muss dabei gewesen sein

Wie wird’s erzählt?

Wie eine rasante Fernsehserie mit gutem Gespür für Schnitt und Pointen. Zwischendurch werden regelmäßig Julias musikalische Idole wie M.O.P., Nelly, N.W.A. und Texta zitiert und die Charaktere sprechen wie manch österreichischer Teenager in den 2000ern eben gesprochen hat. Über einen ihrer Freunde und dessen Verhältnis zur örtlichen Polizei sagt Julia etwa ebenso naiv wie abgeklärt: „Weil er ein Tschusch (Anm. d. Red: abwertende Bezeichnung für eine als fremd angesehene Person) ist und volljährig, muss der Tarek ganz gewaltig aufpassen.“ In ihrem mehrfach ausgezeichneten Romandebüt „Vater unser” ließ Angela Lehner eine Psychiatriepatientin durch die Geschichte führen, die sich Stück für Stück als unzuverlässige Erzählerin herausstellte. Die Ich-Erzählerin in „2001” manipuliert nun zwar nicht absichtlich, aber schildert, was sie sieht, ähnlich unberechenbar – abwechselnd mit kindlicher Logik oder scharfer Beobachtungsgabe. Im Laufe des Romans erkämpft Julia sich jedoch eine eigene Sprache, ihre eigene Zukunftsvision und, just als die Zwillingstürme in New York zusammenbrechen, schließlich auch den Zugang zu ihrer eigenen Wut.

Stärkster Satz?

Julia lässt im Vorbeigehen immer wieder lakonische Weisheiten fallen, etwa hier über die Liebe: „Man kann stolz darauf sein, dass man einen anderen Menschen gefunden hat, der einen abschlecken und sich an einem reiben will. [...] Die gekneteten und abgeschleckten Menschen sind dem Rest von uns überlegen und am Valentinstag sagen sie: Da, eine Rose.”

Schade …

Was durch „2001” hindurch trägt und unterhält, sind sorgfältig recherchierte Gesellschaftsmarotten, die Millennial-Leser:innen wohl wahlweise belustigen, entzücken oder anwidern, jedenfalls aber treffen werden. Allerdings werden die nur selten ausbuchstabiert. Wenn man also nicht gerade um den Jahrtausendwechsel herum ein junger Mensch in Österreich war, werden einige Gags vermutlich nicht landen.

Was zeigt uns das?

Egal wie durchschnittlich und unauffällig sich eine Ära anfühlt, während sie erlebt wird: Ein paar Jahre später wird man doch entgeistert auf ihre Sitten zurückblicken. Die Mode und der Popkulturdiskurs beschäftigen sich gerade verstärkt mit den Nullerjahren, teils humorvoll wie der Nostalgie-Account Galerie Arschgeweih. Oft aber auch kritisch. Viele Medien arbeiten beispielsweise den zügellosen Sexismus gegenüber weiblichen Stars wie Britney Spears oder Paris Hilton auf oder den Ursprung von Verschwörungserzählungen zum 11. September 2001. Es scheint, als seien die Gesellschaft damals weniger politisiert, Feminismus und queere Themen exotisch und Klassengerechtigkeit ein Nischenthema. Auch wenn viel zu tun bleibt und mittlerweile neue Probleme entstanden sind, spürt man nach der Lektüre von „2001”: Es hat sich viel getan.

Titelbild: Hanser-Literaturverlage / Paula Winkler

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