fluter: Wie kann es sein, dass die Kirche nach Jahren des Sozialismus noch so ein Ansehen besitzt?
Thomas Bremer: Den sowjetischen Machthabern ist es nie ganz gelungen, die Kirche auszuschalten. Nach dem Ende der Sowjetunion gab es ein Machtvakuum, das die Kirche füllen konnte – als Institution, die vorrevolutionär, altbewährt und national russisch war. Inzwischen ist die Kirche auch eine Legitimation für die Politik. Die sieht die Kirche als eine Institution, die Russland gesellschaftlich einigen kann. Deswegen lebte die Kirche in den letzten Jahren wieder so stark auf.
Haben der russisch-orthodoxe Patriarch Kirill und Präsident Wladimir Putin ähnliche Vorstellungen von ihrem Land?
Sie haben eine gewisse Sicht, wie sich Russland entwickeln soll – nämlich anders als der Westen. In Russland sagt man, dass die Gruppe, die Gemeinschaft, die Nation die größeren Rechte als das Individuum haben. Das sind auch die zentralen Werte der russisch-orthodoxen Kirche: Die traditionelle Familie, die Gläubigen und die Nation sind ihr wichtig. Am Konflikt der Kirche mit Pussy Riot kann man gut ablesen, wie wenig der Einzelne zählt. Daher ist die Kirche auch kritisch zur Homosexualität eingestellt. Man darf aber nicht vergessen, dass die römisch-katholische Kirche ebenfalls nicht so recht weiß, wie sie mit Homosexualität umgehen soll.
Orientieren sich die Gläubigen in Russland denn stark an der Kirche?
So wie in Deutschland auch, liest in Russland kaum jemand erst die Positionspapiere der Kirche, bevor er sich eine Meinung zu Themen wie zum Beispiel Homosexualität bildet. Der Unterschied ist, dass die Werte der russisch-orthodoxen Kirche oft mit denen der Bevölkerung übereinstimmen und sie ein großes Vertrauen genießt. Es gibt langfristige Umfragen dazu, welchen Institutionen die Menschen vertrauen. Beim letzten Mal war in Deutschland das Ergebnis, dass relativ viele Leute der Polizei oder der Justiz vertrauen, während die Kirchen weit abgeschlagen hinter den Krankenkassen lagen. Das ist in Russland anders. Präsident und Kirche stehen dort weit oben.
Der Präsident und die Kirche unterstützen sich gegenseitig. Gibt es auch Differenzen?
Es gibt Fälle, in denen sie verschiedene Schwerpunkte setzen, und einer davon ist die Ukraine-Politik. Die russisch-orthodoxe Kirche hat sehr viele Mitglieder in der Ukraine, und davon gibt es wiederum sehr viele, die auf der Seite der Ukraine stehen. Wenn nun die russisch-orthodoxe Kirche eindeutig Position beziehen und sich auf die Seite Putins schlagen würde, würde sie einen guten Teil ihrer Mitglieder verlieren. Deswegen hat sie sich bisher eher zurückgehalten.
Thomas Bremer war Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde in Berlin und ist seit 1999 Professor für Ostkirchenkunde und Friedensforschung am Ökumenischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Foto: Calogero Russo/ photoglance