Das Erste, was ich von Timo hörte, machte mir nicht gerade Lust. In der Information des Berliner Bezirksjugendamtes Marzahn-Hellersdorf stand neben den üblichen Fakten zum Elternhaus (Vater weg, Mutter arbeitslos) und zur Schullaufbahn (abgebrochen) noch, dass Timo auch durch fremdenfeindliche Übergriffe aufgefallen war. Ein Rechter also. Auch wenn es ja mein Job ist, schwierige Jugendliche zu begleiten, und ich meine Arbeit ziemlich mag, ist bei mir im Fall von Neonazis eigentlich eine persönliche Grenze erreicht. Muss ich nicht haben.

Eine Woche später stand ich Timo dann gegenüber. Er war damals 16 Jahre alt und reichte mir gerade mal bis zur Schulter. Raspelkurzes Haar, dunkler Kapuzensweater und weite Jogginghosen. Sein Blick war kalt, seine Bewegungen langsam und kontrolliert – als wollte er sagen: Ich raste aus, wenn du mir zu lange in die Augen siehst.

Seine Akte beim Jugendamt wog mindestens ein Pfund. Eine ganze Latte an Vorstrafen, die er sich eingehandelt hatte, seit er zwölf war. Hauptsächlich ging es um Sachbeschädigung, Körperverletzung war aber auch darunter. Mit 13 Jahren hatte sich Timo geweigert, die Schule zu besuchen. Seither musste er in regelmäßigen Abständen an sogenannten Reintegrationsprojekten teilnehmen, bei denen er nach kurzer Zeit einfach nicht mehr auftauchte. Eine Tischtennisgruppe hatte er angeblich nicht mehr besucht, weil dort ein afrikanischer Jugendlicher erschienen war.

Der Projektleiter hatte ihn auch gefragt, was ihn sonst noch so interessiere, worauf Timo erst was von „Fotografieren“ genuschelt und später dann selbstbewusst erklärt hatte, sich in Kürze eine gute Spiegelreflexkamera zu kaufen. „Du hast doch gar kein Geld“, hatte man ihm entgegnet und dass er sich, anstatt zu träumen, besser mal um das Praktikum bei einem Fotoladen kümmern solle, dessen Besitzer schon seit vier Wochen auf ihn warte. Daraufhin hatte Timo geschwiegen.

„In diesem Moment entschied ich mich, ihm deswegen keine Vorhaltungen zu machen“

Als wir mit unseren Rädern durch sein Viertel fuhren, fing er plötzlich an zu reden. Nie wieder wolle er in dieses Projekt und zu diesen Leuten. In gewisser Weise verstand ich ihn sehr gut, obwohl ich auch den Ärger und die Konfrontationen der Projektmitarbeiter nachvollziehen konnte. Da jedoch in der sozialpädagogischen Einzelfallhilfe der Jugendliche und seine Wünsche im Vordergrund stehen, entschied ich, Timos Projektteilnahme abzusagen.

Bei unserem nächsten Treffen eine Woche später zeigte er mir sein Zimmer, das er in der Wohnung seiner alleinerziehenden und arbeitslosen Mutter am nördlichen Rande Berlins bewohnte. Er präsentierte mir seinen riesigen Flatscreen, ein 150-Liter-Aquarium und führte mir auf der Playstation einen Ego-Shooter vor. Über seinem Bett hing ein Plakat mit einer sogenannten Schwarzen Sonne, einem Symbol der SS, wie Timo mir erklärte. In diesem Moment entschied ich mich, ihm deswegen keine Vorhaltungen zu machen. Dann öffnete er noch eine große Schublade mit einer Angelausrüstung.

„Da eine Phobie in Timos Freundeskreis nicht unbedingt cool ist, hatte er all die Zeit niemandem von seiner Panik erzählt“

Das war also Timos Kosmos: Angeln, Sammlungen mit Fotos heimischer Fische und von Motocross-Maschinen, sein Pocket Bike reparieren, Aquarien einrichten. Und genau das machten wir in den nächsten Wochen. Wir gingen angeln, fuhren Kart, trafen uns bei McDonald’s, spielten „Grand Theft Auto“. Timo erzählte mir vom Streit mit seinem Bruder, von seiner Angst vor Gruppen. Deswegen habe er aufgehört, die Schule zu besuchen, und später die Tischtennisgruppe verlassen. Der Afrikaner sei jedenfalls nicht der Grund dafür gewesen. Da eine Phobie in Timos Freundeskreis nicht unbedingt cool ist, hatte er all die Zeit niemandem von seiner Panik und den Schweißausbrüchen erzählt, die ihn in der Gegenwart von mehr als drei Personen überfallen.

Ein Jahr lang trafen wir uns, verbrachten Zeit miteinander, redeten. Dann sagte Timo immer häufiger unsere Treffen ab. Er habe keine Zeit mehr, ließ er mich wissen, sein Ziehonkel brauche ihn auf einer Großbaustelle. Er packe da mit an, von früh bis spät.

Und dann traf ich ihn doch noch mal wieder, eines Abends in seinem Viertel. Er kam gerade von einer Baustelle und trug irgendwie stolz seinen verschmutzten Blaumann und die Arbeitsschuhe mit Stahlkappen. Seitdem er angefangen hatte zu arbeiten, war er nicht mehr negativ aufgefallen. Keine Prügeleien, keine fremdenfeindlichen Aktionen mehr.

Ob ich dazu beigetragen habe, dass Timo irgendwo angekommen war, anstatt herumzuirren? Das kann man in meinem Beruf nie so ganz sagen, aber hoffen tut man es schon. Und ein bisschen glaube ich es auch.

Unser Autor ist Sozialpädagoge und verbringt im Schnitt ein bis zwei Jahre mit schwierigen Jugendlichen. Timo heißt eigentlich anders, aber das ist egal.