Im ersten Zimmer rechts frühstücken Alexander Anisimow und Alexandra Kogorewa, genannt Sascha und Sascha. Wohnen sie zusammen? „Ja“, sagt er. „Nein“, sagt sie. „Na ja, vielleicht ein bisschen.“ Schmunzeln und ein schneller Happen Brot mit Großmutters selbst gemachter Erdbeermarmelade. Im Zimmer gegenüber verpennen die drei Söhne von Namasat Senalowa das Wochenende. Namasat stellt die Einkaufsbeutel ab und zieht ihrem ältesten Sohn die Decke vom Gesicht. 28 Jahre alt und immer noch nicht verheiratet. Wären sie nur in Aserbaidschan geblieben, dann wäre das nicht passiert.

Im Zimmer weiter hinten rechts streichelt Antonina ihre Tapeten. Echtes weißrussisches Fabrikat, Blütenblätter, und wenn das Licht von draußen darauf fällt, schimmern sie golden. „Eine Qualität wie früher“, sagt sie. Antonina findet ohnehin, dass früher alles besser war. Und wer wohnt eigentlich im letzten Zimmer auf der linken Seite? „Ein Piotr aus Moskau“, sagt Antonina. Hat das Zimmer vor ein paar Monaten gekauft. Ist aber seitdem nicht wieder aufgetaucht. St. Petersburg, 5. Sowjetskaja-Straße Nummer 38, zweite Etage, eine Wohnungstür, die über das Parkett schleift. Antonina sagt: „Nur in dieser Wohnung kann ich atmen.“ Namasat sagt: „Das ist doch kein Leben hier.“ Alexandra hat einen Kredit aufgenommen für ihr Zimmer, zehn Jahre Ratenzahlung. Die Renovierung hat gerade erst begonnen. Alle zusammen wohnen sie in einer Kommunalka.

Auf den ersten Blick könnte man denken, das sei so etwas wie eine Wohngemeinschaft in Deutschland. Stimmt aber nicht. Kommunalkas sind Gemeinschaftswohnungen. Institutionalisiert wurden sie, als die Bolschewiki nach der Oktoberrevolution 1917 die Wohnungen der reichen Bürger verstaatlichten und zimmerweise an die neuen Sowjetbürger verteilten. Eine Familie, ein Zimmer – das sollte reichen. Die Sowjetunion ist seit fast einem Vierteljahrhundert Geschichte. Kommunalkas gibt es immer noch. Vor allem in -
St. Petersburg, der alten Zarenstadt, in der die Wohnungen besonders groß und prächtig waren. Einen entscheidenden Unterschied gibt es zu den sowjetischen Kommunalkas: Die Bewohner sind inzwischen Eigentümer ihrer Zimmer.

In der 5. Sowjetskaja-Straße 38 knarrt der Holzfußboden in der Diele, als ob er gegen jeden Schritt protestieren wolle. So kann Antonina jede Bewegung im Flur mitverfolgen. Ihr Kopf taucht in ihrer Zimmertür auf. „Was gibt’s denn hier?“ Eigentlich passiert in dieser Kommunalka nichts, ohne dass Antonina etwas davon merken würde. Es fällt sehr schwer, sich vorzustellen, dass Antonina – 55 Jahre alt, Matrjoschka-Figur, pinkfarbenes T-Shirt – ihr ganzes Arbeitsleben lang beim Militär tätig war, erst für das sowjetische, dann für das russische. Sie arbeitete für die Personalabteilung, und natürlich trug sie Uniform. Das Zimmer in der Kommunalka wurde ihr vor über 30 Jahren zugeteilt. Kostenlos. Sie lebte dort mit ihrem Mann und ihrer Tochter. Irgendwann bekamen sie auch noch das Nachbarzimmer. Antonina besaß immer ein wenig mehr als ihre Nachbarn. Seit ihr Ehemann gestorben und die Tochter ausgezogen ist, wohnt Antonina in dem Zimmer mit den glänzenden weißrussischen Tapeten. In der Schrankwand steht eine Porzellanfigur: Pionier mit Schäferhund. In einem der unteren Schrankfächer hat Perserkatze Afina gerade drei Junge zur Welt gebracht. Antonina spricht viel mit ihren Katzen. Und die Katzen drehen ihren Kopf, als würden sie ihr tatsächlich zuhören. „Die neuen Zeiten gefallen mir nicht“, sagt Antonina.

Die neuen Zeiten begannen, als die Sowjetunion zerfiel. Als vorherige Sowjetstaaten ihre Unabhängigkeit erklärten und Antonina vor dem Lebensmittelladen in einer langen Schlange nach Brot anstand. „Und das soll Demokratie sein? Ich verstehe es nicht“, sagt sie. Antonina nennt ihre Heimatstadt nicht St. Petersburg, sondern Leningrad, so wie sie in der Sowjetunion hieß. Bei jeder Wahl stimmt sie für Wladimir Putin, den russischen Präsidenten. Weil er ihr das letzte bisschen Hoffnung erhält. „Er ist der Einzige, der das Land noch zusammenhält.“ Antonina hat seit wenigen Monaten zwei neue Nachbarn, das junge Paar im Nebenzimmer. „Sehr nett“, sagt sie. „Neue Freunde.“

Sascha und Sascha sagen, sie wüssten nicht genau, wer da neben ihnen wohne. Aber sie hätten einmal versucht, mit Antonina über die Renovierung der Küche und des Bades zu sprechen. Richtig zugehört habe ihnen die Rentnerin wohl nicht. Im Badezimmer einer früheren Kommunalka hat Alexandra mal Pilze wachsen sehen – „richtig mit Stiel und Hut“. So schlimm ist es in der Sowjetskaja-Straße nicht. Auch wenn die Toilette jedem Bahnhofsklo Konkurrenz macht, Rohre und Kabel ein Labyrinth an den Wänden bilden, und der Wasserdruck  nachlässt, wenn jemand in der unteren Etage den Hahn aufdreht. Theoretisch sind in einer Kommunalka alle gemeinsam für die Gemeinschaftsräume verantwortlich. In der Realität herrscht oft Verwahrlosung, weil niemand sich so richtig verantwortlich fühlt. 

Sascha und Sascha verlassen ihr Zimmer so wenig wie möglich. Noch wird der Raum renoviert, aber das spätere Aussehen ist schon zu erahnen: die Garderobe neben der Tür, die Nische mit Toaster und Küchenmaschine, der Arbeitsplatz mit Smartphone, Tablet und Netbook, die große Matratze, wo später das Bett stehen soll. Es sind nur 26 Quadratmeter, aber auf denen schotten sie sich so gut wie möglich ab von allem außerhalb ihres Zimmers.

Vielleicht liegt das daran, dass Alexander und Alexandra manchmal an ihrem Land und seinen Bewohnern verzweifeln. Sie sind 25 Jahre jung, an diversen Stellen gepierct und tätowiert, er ist Ingenieur, sie organisiert Umwelt-Bildungsprojekte. Sie trennen ihren Müll, obwohl das in Russland fast niemand macht. Alexandra hilft manchmal als Freiwillige, wenn einmal im Monat der getrennte Müll an Sammelpunkten in der Stadt abgegeben wird. Am Frühstückstisch am Sonntag reden sie über eine Revolution in Russland, die hoffentlich bald kommt. Sascha und Sascha gehen nicht wählen. Beide sagen gleichzeitig: „Das hat doch keinen Sinn.“ In 15 Jahren möchte Alexandra in einem Haus in einem Dorf wohnen. In den vergangenen 
20 Jahren haben viele Russen die Dörfer verlassen. Alexandra möchte genau dorthin. Raus aus der Kommunalka, weg 
von den Menschen. 

In der Küche der Kommunalka steht Namasat Senalowa und zerlegt ein Hühnchen. Sie braucht dafür nur Sekunden – und ein paar heftige Hiebe mit dem Messer. Sie bewegt sich mit schweren Schritten durch die Küche, wie eine Frau, die jeden Weg schon zu oft gegangen ist. Sie bewohnt das kleinste Zimmer in der Kommunalka. Nachts schläft sie mit einem Sohn auf der Klappcouch, die anderen zwei teilen sich das Bett.

Namasat kam 1986 mit ihrem Mann aus Aserbaidschan nach St. Petersburg. Er starb vor vielen Jahren, Namasat blieb. Zurück nach Aserbaidschan kann sie nicht. „Keine Arbeit.“ In eine größere Wohnung kann sie auch nicht: „Nicht genug Geld.“ Namasat und ihr ältester Sohn arbeiten sechs Tage in der Woche in einem Obstlager. Ihr größter Traum: genug Geld zu haben für ein eigenes Auto. Während Namasat in einer Pfanne Zwiebeln in Öl ertränkt, erzählt sie zuerst von ihren Zwillingen, die viel zu früh auf die Welt kamen. Sie sind jetzt 15 Jahre alt und besuchen die sechste Klasse. Dann von ihrer Mutter in Aserbaidschan, die auf den Besuch der Tochter wartet. Und schließlich von einem Russland, das sie sich einmal ganz anders vorgestellt hat. „Ich dachte, hier gibt es keine Betrüger.“ Immer wenn Namasat nicht weiterweiß, sagt sie: „Man muss ja irgendwie leben.“ Über ihrem Kopf baumelt ein Zweig mit Lorbeerblättern. Durch das Fenster mit dem gesprungenen Glas drückt der kalte St. Petersburger Winterwind. Namasat trägt das fertige Essen durch den Flur. Hinter der Tür von Sascha und Sascha ist es still. Hinter der anderen hört sie Antonina mit einer ihrer Katzen sprechen. Namasat betritt ihr Zimmer. „Genug geschlafen, Jungs, Essen ist fertig!“ Allein in der Küche am Herd brennt weiter eine einzelne Gasflamme. Sie soll noch für ein wenig Wärme sorgen.

Fotos: Sergey Kozmin/Redux/laif, Alessandro Gandolfi/Parallelzero