Eines Tages hatte Silvia plötzlich einen Nikab an. Der Schleier war pechschwarz und ließ nur ein paar Quadratzentimeter ihres Gesichts unverhüllt, einen kleinen Schlitz vom linken Auge bis zum rechten. Spätestens da war der ganzen Klasse klar: Irgendwas ist los mit diesem Mädchen.
Silvia war nicht die Einzige, die sich verändert hatte. Auch ihre Klassenkameradin Rebecca trug einen Nikab, sprach ständig vom Jenseits, den Mudschahedin – starken, männlichen Gotteskämpfern – und zuletzt auch immer öfter von der Hidschra, für sie die Reise in den Dschihad, den Heiligen Krieg gegen Ungläubige.
„Silvia, meine Schwester, wir sind gut angekommen. Komm bald nach.“
Die beiden 17-Jährigen verbrachten viel Zeit miteinander. Sie diskutierten über den Koran und schickten sich gegenseitig YouTube-Videos deutscher Prediger wie andere Teenies Links zu Schmink-Tutorials. Eines Tages blieb Rebeccas Platz in der Klasse leer. Sie war in den Krieg gereist und schrieb ihrer Freundin einige Zeit später: „Silvia, meine Schwester, wir sind gut angekommen. Komm bald nach.“
Auch wenn genaue Zahlen fehlen: In Deutschland gibt es viele junge Menschen, die sich für die islamistische Szene interessieren, sich wie Silvia aus Wiesbaden radikalisieren oder wie Rebecca in Richtung Syrien oder Irak aufbrechen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz zählte in den vergangenen vier Jahren 920 Personen, die Deutschland verlassen haben, um in den „Heiligen Krieg“ zu ziehen. Der Großteil wurde in der Bundesrepublik als Kind muslimischer Eltern geboren, ein Achtel konvertierte erst später. Darunter sind auch junge Frauen: Jeder fünfte Ausreisende ist weiblich, die Hälfte von ihnen jünger als 25.
„Das ist ein Ort, an dem du keinen Schmerz mehr fühlst, da gibt es kein Leid, keine Eifersucht, keinen Streit.“
Die radikalen Islamisten werben damit, dass sie im sogenannten Kalifat von IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi endlich ihren Glauben uneingeschränkt ausleben können. Manche Jugendliche träumen auch davon, mit Maschinengewehren im Anschlag Abenteuer zu erleben. Andere davon, sich mit einem tapferen Muslim zu vermählen, viele kleine Kämpfer zu gebären und so am Aufbau des selbst ernannten Islamischen Staates mitzuhelfen, einem Ort ohne Kriminalität und Klassenunterschiede. Dass die Realität, die sie im „Islamischen Staat“ erwartet, rein gar nichts mit diesem verklärten Bild gemein hat, bemerken viele erst, wenn es schon zu spät ist.
Auch Silvia sehnte sich immer mehr nach einem muslimischen Mann. Am besten einen dieser furchtlosen „Löwen“, deren heroische Taten sie ständig online sah. Dass Silvias Vater ein halbes Jahr zuvor ganz plötzlich gestorben war, könnte auch etwas damit zu tun haben. Mit ihrer Mutter konnte Silvia über vieles nicht reden. Also schluckte sie ihren Schmerz hinunter und zog sich zurück – bis Rebecca kam. Sie tröstete Silvia und erzählte ihr vom Jenseits: „Das ist ein Ort, an dem du keinen Schmerz mehr fühlst, da gibt es kein Leid, keine Eifersucht, keinen Streit.“ In der salafistischen Szene nahm man Silvia warmherzig auf.
„Die Rekrutierer der Szene schauen sich die emotionalen Bedürfnisse der Jugendlichen genau an, und dann erfüllen sie eines nach dem anderen“, sagt Thomas Mücke. Der 1958 in Neukölln geborene Berliner gründete zusammen mit anderen Pädagogen das „Violence Prevention Network“. Anfängliches Ziel der NGO: beweisen, dass der Spruch „Einmal Nazi, immer Nazi“ nicht stimmt. Die Dienstleistung, die es dafür brauchte, heißt „Deradikalisierung“ und lässt sich, wie sich bald zeigte, auch auf andere Ideologien anwenden. Tatsächlich aber, so Mücke, spielen die Inhalte einer Ideologie bei der Rekrutierung von Jugendlichen gar keine so große Rolle: „Würde ein Punk oder irgendein Fanclub des Weges kommen und die Sorgen dieser Jugendlichen ernst nehmen, dann würden sie sich eben diesen anschließen.“
„Würde ein Punk oder irgendein Fanclub des Weges kommen und die Sorgen dieser Jugendlichen ernst nehmen...“
Laut den deutschen Sicherheitsbehörden haben soziale Kontakte und Verbindungen zur islamistischen Szene den größten Einfluss auf die Radikalisierung von Jugendlichen. Bedeutend sind zum Beispiel die Koran-Verteilaktion „Lies!“, vermeintliche Benefizveranstaltungen für die syrische Bevölkerung und Islamseminare. Besteht der Kontakt erst einmal, lässt die Szene so schnell nicht mehr von den Jugendlichen ab. Sie schickt regelmäßig Nachrichten, lädt zum gemeinsamen Essen oder Fußballspielen ein.
Auch das Internet trägt zur Radikalisierung bei. Zwar ist die Anzahl der Ausreisenden, die sich einzig über das Netz radikalisiert haben, mit drei Prozent verschwindend gering. „Gerade in der Anfangsphase und zur Stabilisierung spielt das Internet aber eine große Rolle“, sagt Mücke.
„...dann würden sie sich eben diesen anschließen.“
Für die Kleinsten bringt die Terrororganisation bunte Apps heraus. Das mobile Spiel „Moalem Al-Huruf“ (dt. „Lehrer der Buchstaben“) bringt Kindern das Rechnen bei: Eine Machete plus eine Machete sind zwei Macheten. Die App „Huruf“ (dt. „Buchstaben“) vermittelt das arabische Alphabet: „G wie Gewehr“. Und bei „Dua“ (dt. „Bittgebete“) kann man ausländische Kampfjets vom Himmel bomben. So erlernt man Feindbilder ganz spielerisch.
Für die Älteren produziert der IS aufwendige Filme. Videos von Enthauptungen sorgen regelmäßig für Publicity und Schrecken, andere zeichnen von den Kämpfern ein fast sinnliches Bild: in goldenes Licht getaucht und mit Sturmgewehr auf dem strammen Rücken. Manche – unter anderem auf Twitter gepostete – Bilder suggerieren wiederum eine heile Welt: Da wird die inoffizielle Hauptstadt Raqqa schon mal zum Paradies auf Erden.
Auf Facebook laden Anwerber Jugendliche in geschlossene Gruppen ein. „In Deutschland ist kein Platz für euch“, verbreiten sie, wenn auch subtiler formuliert, im Chor; auf ihren Profilen „I love Allah“-Schriftzüge. Weil Facebook und Twitter derzeit verstärkt gegen IS-Propaganda vorgehen, bauen die Dschihadisten, so Europol Anfang Mai, nun sogar ein eigenes Social-Media-Netzwerk auf. Auch abseits der großen Plattformen ist der IS aktiv: Es gibt Blogs, auf denen Mädchen über das gute Essen im Dschihad schwärmen und Rezepte für deutsch-syrische Spätzle und syrische Brownies veröffentlichen („Schmecken tut er am besten bei hohen Verlusten seitens der Russen. Einfach mal ausprobieren“); E-Books, die den IS als Sozialstaat darstellen, der nicht nur für die Strom- und Wasserrechnung aufkommt, sondern auch alle Arztkosten übernimmt; und schließlich Dschihad-Guides, die Schritt für Schritt geeignete Routen erläutern, detaillierte Tipps fürs Packen geben (Solarladegeräte!) und sogar SIM-Karten empfehlen (Turkcell mit einem Gigabyte Datenvolumen). Auf gar keinen Fall sollte man die Hidschra antreten, wenn die „Eltern das Handy konfisziert“ haben.
Viele Jugendliche, die auf radikale Salafisten reinfallen, haben keine Ahnung vom Islam
Und dann ist da noch eine Versprechung, die in der IS-Propaganda nur selten oder indirekt zu finden ist, aber viele Jugendliche anspricht: endlich nicht mehr zweifeln müssen, endlich alles richtig machen und auf alle Fragen des Lebens eine einfache Antwort bekommen. „Die haben ihren Verstand in der Jackentasche anderer Menschen abgelegt“, sagt Thomas Mücke, „und wir müssen jetzt zusehen, dass sie ihn wieder zurück in ihren Kopf holen.“
Zurzeit betreuen Mücke und seine rund 80 Mitarbeiter, darunter Sozialarbeiter, Psychologen, Islamwissenschaftler und Seelsorger, etwa 300 Jugendliche. Manche haben erst seit Kurzem Kontakt zur salafistischen Szene, andere haben ihre Hidschra-Koffer längst gepackt. Wieder andere sitzen als Dschihad-Rückkehrer in Vollzugsanstalten. „Da müssen wir aufpassen, dass nicht ein Extremist reinkommt und mehrere wieder raus“, sagt Mücke.
Was Mücke und den anderen Betreuern bei ihrer Arbeit immer wieder auffällt: Die meisten Jugendlichen haben weder eine Ahnung vom Syrienkrieg noch von ihrer Religion. „Wir stellen immer wieder fest, dass sie religiöse Analphabeten sind“, sagt Mücke. Deshalb gibt es für viele erst einmal einen Crashkurs in Sachen Islam. „Wenn sie durch gemeinsames Studium erkennen, dass es nicht den einen Islam gibt und man Ausrichtungen historisch einordnen muss, können sie sich auch leichter von extremistischen Meinungen distanzieren.“
Dass Silvia, die eigentlich anders heißt, immer noch in Wiesbaden lebt und nicht in Raqqa, liegt zu einem großen Teil an ihrem Vertrauenslehrer. Als er bemerkte, dass sich die Schülerin immer mehr zurückzog, nahm er sie einfach mal beiseite und bot an, über ihre Trauer zu reden. Später vermittelte er Silvia an das Violence Prevention Network. Dass viele der Betreuer selbst Muslime sind, hilft in härteren Fällen enorm. Für die meisten Jugendlichen aber, so Mücke, zähle vor allem, dass jemand sie und ihre Fragen ernst nehme. Wäre ihnen das erst einmal klar, wäre das Schlimmste überstanden. In neun von zehn Fällen verabschieden sich die Jugendlicher wieder aus der Szene.
Titelbild: picture alliance/abaca