Zwanzig Jungen sitzen auf quietschenden Bierbänken mitten in einem großen Gebetsraum. Ihre Finger fahren über den arabischen Text, von rechts nach links – immer wieder. Sie lesen Buchstabe für Buchstabe den Koran. Kein Spaziergänger würde in dem ehemaligen Industriegebäude des Münchner Stadtteils Sendling eine Moschee vermuten. Außen verrät nur ein kleines Schild, dass Muslime hier beten. Die Kinder und Jugendlichen schauen auf den Mann in Anzug und Krawatte, der vor ihnen steht: Yilmaz Kücük, ihren Lehrer. Yilmaz Kücük fragt die Kinder, wer Sonne, Mond und Sterne erschaffen hat. Natürlich wissen sie die Antwort: Es war Gott, genauer gesagt "Allah". So nennen Muslime Gott überall auf der Welt, egal ob sie in Indonesien, Arabien, in Deutschland oder in der Türkei leben. Denn die Sprache des Islam ist Arabisch. Schließlich wurde der Prophet Mohammed in der arabischen Stadt Medina geboren. Seine Offenbarungen stehen im Heiligen Buch des Islam, im Koran. 

Obwohl junge Muslime wie Muhittin eigentlich nur Deutsch und Türkisch sprechen, ist es für sie selbstverständlich, dass sie den Koran in arabischer Sprache lesen. Die Schüler verbringen Stunden und Tage damit, die arabischen Buchstaben zu lernen. Nach monatelanger Übung klappt das Ablesen schon ganz gut. Aber um den Koran wortwörtlich übersetzen zu können, müssten sie echten Arabisch-Unterricht nehmen. Und das macht keiner von ihnen. "Ich kann den Koran zwar lesen, aber die einzelnen Wörter verstehe ich nicht", sagt der 14 Jahre alte Muhittin. "Aber es gibt Bücher, in denen werden die einzelnen Suren des Koran übersetzt, und auch unser Lehrer erklärt uns, um was es geht."

Misstrauen und Furcht

Rund 2.300 türkisch geprägte Moscheen gibt es in Deutschland. Dazu kommen noch Moscheen von zum Beispiel bosnischen oder arabischen Muslimen. Niemand kann ganz genau sagen, wie viele dieser Moscheen auch Korankurse anbieten. Es gibt Schätzungen, dass in Deutschland jährlich etwa 70.000 Kinder in Koranschulen gehen. Was sich nach einer regulären Schule anhört, sind in Wirklichkeit aber nur privat organisierte Kurse. Es gibt auch keinen einheitlichen Lehrplan. Das finden viele Experten bedenklich. Denn jeder Imam unterrichtet, was er persönlich für richtig hält. "Der jeweilige Imam bringt seine eigene Interpretation des Islams in seine Arbeit ein", sagt Professor Faruk Sen, Leiter des Essener Zentrums für Türkei-Studien. Weder das Schulamt noch die Kultusministerien der Bundesländer wissen, was genau den Kindern in einer Koranschule vermittelt wird.

"Wir sind Koranschulen gegenüber manchmal etwas skeptisch, weil wir den Verdacht haben, dass es nicht beim Auswendiglernen bleibt, sondern dass die Schüler in bestimmter Weise indoktriniert werden", sagt Ulrich Seiser vom bayerischen Kultusministerium. Die Skepsis des bayerischen Kultusministeriums scheint nicht unbegründet zu sein. Auch der Verfassungsschutz ist der Überzeugung, dass in einigen Moscheen radikale Meinungen vermittelt werden. Diese Meinungen könnten auch in den Koranunterricht der Kinder einfließen – überprüfen kann das niemand. Yilmaz Kücük ist sicher ein positives Beispiel. Er spricht mit den Schülern auch über Anschläge wie in London oder auf die Zwillingstürme in New York: "Gott sagt, wenn man einen Menschen tötet, ist es, als würde man die ganze Menschheit töten. Solche Anschläge passen nicht zu unserer Religion. Diese Muslime sagen zwar, sie handeln im Namen des Islam, aber sie besudeln unsere Religion." 

Da die Inhalte der Kurse nicht überprüft werden können, wollen die Kultusministerien der einzelnen Länder Alternativen zum Glaubensunterricht an den Moscheen anbieten. "Das Ziel ist, dass auch die Muslime das Recht haben wie die Katholiken, wie die orthodoxen Schüler, wie die jüdischen Schüler, in der Schule etwas über ihren Glauben zu erfahren", sagt Seiser. In Bayern heißt der Unterricht für muslimische Kinder meist "Islamische Unterweisung". Er findet vor allem an den Grundschulen statt. Das ist eine Art von islamischer Ethik, die von der ersten bis zur fünften Klasse für islamische Schüler eingerichtet ist. Aber vor allem an weiterführenden Schulen gibt es keinen Religionsunterricht für Muslime. Volkan (13) besucht den Korankurs in der Münchner Moschee auch deshalb, weil es an seiner Schule zum Beispiel kein Religionsangebot gibt. "Bei uns gibt es nur Ethik. Aber ich fände es gut, wenn ich auch an der Schule islamischen Unterricht haben könnte."

Die Moschee ist Schule und ein Stück Heimat 

Bei der Zusammenstellung der Lehrpläne hat das Kultusministerium ein Problem. Religionsunterricht ist nämlich ein Mischkonstrukt. Die Religion liefert die Inhalte und der Staat erteilt den Unterricht. Er sorgt also dafür, dass es Lehrer und Lehrpläne gibt. Aber es gibt auf Seiten der Religion keinen echten Ansprechpartner für die Länder. Der Grund: Im Islam gibt es keine vergleichbare Institution wie die katholische oder evangelische Kirche. Bei der Auswahl der Lehrer steht das Kultusministerium vor einem weiteren Problem: In der islamischen Unterweisung werden zum großen Teil noch türkische Lehrer beschäftigt, die oft nur wenig Deutsch können und auch das Leben der Kinder in Deutschland kaum kennen. Das ist eine Übergangslösung. Ziel ist es, immer mehr Lehrer mit deutscher Ausbildung einzusetzen. Deshalb gibt es zum Beispiel an der Universität Erlangen seit kurzem islamische Religionspädagogik als Studienfach. Bald können dann die ersten in Deutschland ausgebildeten islamischen Religionslehrer an den Schulen unterrichten. 

Aber ganz gleich, wie gut der islamische Religionsunterricht in den Schulen künftig organisiert sein mag – wahrscheinlich werden viele Eltern ihre Kinder auch weiter in den Koranunterricht schicken. Gerade im Ausland stellt die Moschee für viele Muslime mehr als einen Gebetsraum dar. Es ist ein Ort, an dem sie Freunde sehen und sich in der eigenen Sprache austauschen können. Oft sind den Moscheen noch Kaffeehäuser angeschlossen, in denen sich die Gemeinde trifft. Viele Eltern fühlen sich ihrer Gemeinde so verbunden, dass sie schon deshalb ihre Kinder in die Korankurse schicken. Aber es gibt noch einen Grund, weiß Faruk Sen: "In der Diaspora haben moslemische Eltern Angst, dass sich ihre Kinder religiös entfremden können. Die meisten Eltern legen in Deutschland mehr Wert auf eine religiöse Erziehung als in der Türkei."

Claudia Steiner arbeitet für den Rundfunk und schreibt für Zeitschriften. Sie lebt in München.