„Wenn du eine Geschichte erzählen willst, erzähle sie mit Haltung“, erklärt Jazz-Legende Miles Davis im überschäumenden Biopic „Miles Ahead“ dem „Rolling Stone“-Reporter Dave Braden, als der seine Story über einen der wichtigsten und einflussreichsten Musiker des 20. Jahrhunderts nüchtern wie eine Nachrichtensendung anmoderiert. Ganz anders Don Cheadle. In seinem Regiedebüt, in dem er auch gleich die Hauptrolle spielt, macht er sich gar nicht erst die Mühe macht, die wichtigsten Stationen im Leben von Miles Davis abzuklappern, sondern steigt gleich am Tiefpunkt von dessen Karriere ein.

Drogen, Schulden, Paranoia: Ende der 1970er-Jahre war Miles Davis nach einigen Pionierleistungen – Innovator des Hardbop, Erfinder von Cool Jazz und später Jazz Fusion – ganz unten angekommen. Sein Label Columbia, an das er vertraglich gebunden blieb, wartete seit Jahren auf neues Material. Davis litt unter einer kreativen Blockade und verbarrikadierte sich wie ein Eremit in seinem New Yorker Apartment.

Von hier aus arbeitet sich „Miles Ahead“, auch der Titel eines der besten Alben, wenig systematisch, aber umso furioser durch das Leben von Miles Davis. Er nimmt dabei musikalische wie biografische Motive auf und variiert diese mit Mut zur Auslassung in rasanten impressionistischen Arrangements, die ein wenig an die Improvisationen des Free Jazz erinnern.

Cheadle, der seinen Film zum Teil durch Crowdfunding finanzierte, springt mit eleganten Überblendungen zwischen den späten 1950er-Jahren, als Davis auf dem ersten Höhepunkt seiner Karriere seine Frau, die Tänzerin Frances Taylor (Emayatzy Corinealdi), kennenlernte, und den späten 1970ern. Davis’ paranoiden Kokainwahn simuliert Cheadle mit mit irren Einstellungen einer entfesselten Handkamera und wilden Jump Cuts. Ewan McGregor spielt den Reporter Braden, der Davis für eine Comeback-Geschichte aufsucht, sich dann aber wie ein lästiger Parasit an ihn hängt und zwei durchgeknallte Tage mit ihm verbringt, in denen sie exzessiv Drogen nehmen, einer verlorenen Aufnahme hinterherjagen und in Autoverfolgungsjagden inklusive einer Schießerei verwickelt werden.

Ganz schön gonzo: „Miles Ahead“ geht es um Intensität, nicht Akkuratesse

„Miles Ahead“ ist eine rasante Kolportage, die an die „Rolling Stone“-Reportagen des Gonzo-Journalisten Hunter S. Thompson erinnert: immer ganz nahe dran und immer larger than life. Cheadle hat gar nicht den Anspruch einer wahrheitsgetreuen Hommage an Davis’ Lebenswerk. Es geht ihm auch nicht um eine Heiligsprechung – das hat die Geschichte längst erledigt, als Miles Davis 2006 in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen wurde.

Cheadle geht es vor allem um Intensitäten: das Einfühlen in die kreativen Energien, die Davis’ beste Arbeiten auszeichneten. Eine große biografische Genauigkeit stünde dem nur im Weg. Gleichzeitig geht er dem Mythos nie auf den Leim. Davis konnte auch ein ziemlicher Bastard sein, selbstgerecht, aufbrausend, mit einem äußerst traditionellen Rollenverständnis der Frau. Cheadle lässt diese Facetten nicht aus, er spielt die Ambivalenzen in Davis’ Persönlichkeit mit phänomenaler Intensität aus: den jungen Davis als unwiderstehlichen smooth operator mit samtigem Timbre in der Stimme, den späten als durchgeknallte cool cat mit exaltierten Hemden und einem fisseligen, wie unter Strom stehenden Afro.

„Miles Ahead“ ist der perfekte Film für Miles-Davis-Einsteiger, weil Cheadle die Liebe zur Musik genauso zum Ausdruck bringt, wie er die kreative Hybris, die Davis zu einem Ausnahmemusiker machte, zeigt. Am Ende findet Davis durch einen Nachwuchsmusiker zu neuer Inspiration, die ihn auf einen letzten Karrierehöhepunkt in den 1980er-Jahren führt. Diese Phase deutet „Miles Ahead“ in einem inszenierten Jam mit Mitstreitern des 1991 verstorbenen Davis, u.a. Herbie Hancock und Wayne Shorter, an. Das Todesjahr spart der Film im Abspann aus. Nur konsequent: Seine Musik hat Miles Davis unsterblich gemacht.

„Miles Ahead“, USA 2015, Regie: Don Cheadle, mit Don Cheadle, Ewan McGregor Emayatzy Corinealdi, Lakeith Lee Stanfield, Michael Stuhlbarg, 100 Minuten