Eigentlich geht es ums Radfahren, aber auf einem Transparent steht: „Schon 15 Tote“. Auf einem anderen: „15 Tote zu viel!“ So wie in Kriegen die Gefallenen gezählt werden, zählt der Volksentscheid Fahrrad jährlich in der Hauptstadt getötete Radler. Zum Zeitpunkt der Demonstration im Dezember 2016 sind es 15. Und was auf den ersten Blick vielleicht etwas unangemessen wirkt, ein martialischer „Body Count“ bei einem lokalpolitischen Verkehrsthema, hat bei den Radaktivisten Methode. Das entscheidende Wort lautet: Provokation.
An einem kalten Dezembertag wollen etwa 80 von ihnen mit einer als Demonstration angemeldeten Fahrt durch Berlin für ihre Ziele werben. Angelo, an dessen Fahrrad das Plakat „15 Tote zu viel“ angebracht ist, arbeitet als Gärtner und ist 24 Jahre alt. „Ich habe einen Führerschein, aber kein eigenes Auto. Wir müssen uns davon verabschieden, dass jeder ein Auto hat“, sagt er. Angelo würde, so wie viele hier, eine Citymaut befürworten, also eine Gebühr, wenn Autos ins Stadtzentrum fahren.
Für zwei Stunden ist Berlin schon mal ein Fahrradparadies
Aber erst einmal fahren an diesem Tag die Radler, verkleidet als Nikoläuse. Heinrich Strößenreuther, Pressesprecher und Gesicht der Initiative, gibt das Startkommando: „Ho, ho, ho, es falschparket sehr!“ Dann geht es durch von der Polizei für diese Demonstration auf Rädern kurzzeitig gesperrte Straßen, Großer Stern und Ku’damm. Aus den Boxen, die auf einem Anhänger mitfahren, schallt es „New York, New York“. Menschen am Straßenrand winken. Autos müssen warten. Für zwei Stunden ist Berlin schon mal ein Fahrradparadies.
Seit dem Sommer 2015 hat sich der Volksentscheid Fahrrad zur wohl lautesten Pro-Rad-Interessengruppe in Deutschland entwickelt. Die Aktivisten wollen ein „Gesetz zur Förderung des Radverkehrs in Berlin“, das die Hauptstadt verpflichten würde, auch eine Hauptstadt des Fahrrads zu werden. Zu den zehn Zielen gehören 350 Kilometer neue Fahrradstraßen, zwei Meter breite Radwege an Hauptstraßen und grüne Wellen fürs Fahrrad. Aktuell verklagen die Aktivisten gar den Senat. Die Innenverwaltung verschleppe die Zulässigkeitsprüfung ihres Gesetzes, meinen sie. Ohne diese Prüfung kann die zweite Phase ihres Volksbegehrens nicht starten. Dann braucht es etwa 174.000 Unterschriften. Gelingt auch das, könnte es zum Volksentscheid über das Radgesetz kommen.
Die erste Hürde, 20.000 Unterschriften für einen Antrag auf ein Volksbegehren, wurde locker übersprungen. Über 100.000 Berliner unterstützten die Ziele des Volksentscheids Fahrrad in kürzester Zeit. Das Gesetz selbst erarbeiteten die Aktivisten nach einiger Vorbereitung vor allem in einem „Gesetzes-Hackathon“ an einem einzigen Wochenende. Es war die erste Veranstaltung dieser Art in Deutschland. Beim Hackathon vernetzten die Aktivisten anwesende und per Internet und Telefon zugeschaltete Experten aus ganz Deutschland miteinander, die alle kniffligen Fragen sofort beantworten konnten. Dadurch konnte sowohl die Schwarmintelligenz genutzt als auch das Tempo hoch gehalten werden, denn sonst dauern solche Vorgänge deutlich länger. Frei nach dem Erfolgsgeheimnis der Aktivisten von Volksentscheid Fahrrad: Die Politik einfach überrumpeln. Aber da war ja auch noch die Sache mit der Provokation.
„Provokation hat heute einen sehr negativen Beiklang“
„Provokation hat heute oft einen sehr negativen Beiklang“, erklärt Heinrich Strößenreuther. „Dabei wollen wir einfach von der Politik eine Reaktion einfordern.“
Strößenreuther empfängt in einem Büro unweit der Spree und entschuldigt sich zunächst: „Ich bin heute etwas durch den Wind. Es gab vorhin den 16. Radtoten in Berlin dieses Jahr.“ Der Oberaktivist trägt Brille, ist hochgewachsen und hat immer mindestens ein Auge auf dem Bildschirm – schließlich sind soziale Netzwerke für ihn und sein Anliegen unerlässlich. „Es ist zunächst einmal eine nachvollziehbare Haltung, wenn Politiker nichts gegen das Auto machen, sie wollen ja gewählt werden“, erklärt Strößenreuther. „Wir wollen Michael Müller zeigen: Mit dem Rad kann man Wahlen gewinnen!“
Der harte Kern der Gruppe besteht aus nur 20 Personen. Strößenreuther selbst arbeitet schon seit über 200 Tagen Vollzeit und ehrenamtlich für den Volksentscheid Fahrrad. „So langsam ist das Konto leer“, sagt er und schmunzelt. Der große persönliche Einsatz ist ebenso wie das hohe Tempo und das Mittel der Provokation eine weitere Tugend der Radaktivisten. Außerdem gilt: Laut sein!
Wer mehr Platz in der Stadt für das Rad einfordert, muss diesen Platz jemandem wegnehmen
Sie haben schon Autos mit Sahne besprüht, sind in Straßenkleidung mit dem Fahrrad in die Spree gesprungen oder haben beim „Ride of Silence“ Berlin zu einem Teil einer weltweit ausgeprägten Fahrradbegeisterung gemacht. „Wir wollen das Gesetz!“, sagt Strößenreuther bestimmt. Zu seinen gedanklichen Bezugsgrößen zählt er den Soziologen Harald Welzer, der in seiner „Anleitung zum Widerstand“ zwölf Regeln für erfolgreiches Aufbegehren formuliert hat, deren erste lautet: „Es könnte anders sein.“
Doch auch Strößenreuther und die anderen haben schon Begriffe geprägt, die sich mittlerweile in der öffentlichen Debatte festsetzen. „Flächengerechtigkeit“ ist so ein Wort, oder mehr schon: ein Kampfbegriff. Denn wer mehr Platz in der Stadt für das Rad einfordert, muss diesen Platz schlussendlich jemandem wegnehmen. In diesem Fall: den Autofahrern. Die Radler haben nach Darstellung des Volksentscheids aktuell etwa drei Prozent der Stadtflächen für sich, die Autofahrer dagegen 20-mal so viel. Das ist ein heikler Punkt, denn zwar betont Strößenreuther, dass er „keine Kampagne gegen das Auto“ möchte. Aber der Platz in der Stadt ist nun mal begrenzt, solange die Menschen nicht alle in Turbo-Kapseln durch die Gegend fliegen. Doch das ist Zukunftsmusik.
„Das Kerngeschäft ist immer noch, selbst rauszugehen, die Unterschriften zu sammeln und die Menschen zu überzeugen.“
Das Thema Fahrrad ist aber eines, das bestens zur Melodie der Gegenwart passt, denn es bewegt viele Berliner. Außerdem passt es gut ins Raster für erfolgreiche Bürgerinitiativen, erklärt Carsten Koschmieder, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin und Experte für politische Soziologie. „Statistisch gesehen haben Unterstützer von Volksbegehren eine höhere Bildung und ein höheres Einkommen als der Durchschnitt der Bevölkerung.“ Beim Volksentscheid Fahrrad falle zusätzlich auf, dass er präsenter sei als die meisten Bürgerinitiativen. Allerdings dürfe laut Koschmieder die Rolle von Medien und sozialen Netzwerken auch nicht überschätzt werden: „Es wird sich online verabredet und organisiert. Aber das Kerngeschäft ist immer noch, selbst rauszugehen, die Unterschriften zu sammeln und die Menschen zu überzeugen.“
Trotz seiner bisherigen Erfolge ist der Siegeszug des Volksentscheids Fahrrad aber keinesfalls sicher. Ein Volksentscheid gilt nämlich erst dann als erfolgreich, wenn die Mehrheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer und zugleich mindestens ein Viertel der Berliner Stimmberechtigten zugestimmt haben – es müssen also mindestens rund 613.000 „Ja“-Stimmen erreicht werden. Deshalb wollten die Aktivisten die Abstimmung am gleichen Tag stattfinden lassen wie die Bundestagswahl 2017. Das allerdings wird zunehmend schwieriger, je länger die momentane Zulässigkeitsprüfung dauert. Doch vielleicht wird ja gar keine Abstimmung nötig.
Die Berliner Koalition will viele Inhalte übernehmen, die der Volksentscheid Fahrrad formuliert hat
Im 100-Tage-Programm des neuen Senats steht bereits, dass „im Dialog mit dem Volksentscheid Fahrrad und weiteren Verbänden“ ein Radverkehrsgesetz auf den Weg gebracht werden soll, und zwar als erster Baustein eines weitreichenden Mobilitätsgesetzes. Die Koalition will auch viele Inhalte übernehmen, die der Volksentscheid Fahrrad formuliert hat – sagt bislang aber nicht klar, wann genau und in welcher Form das Gesetz kommt. Die parteilose Verkehrssenatorin Regine Günther kündigte nur an, dass ein Gesetz „bis Frühjahr“ stehen solle. Im Gegenzug allerdings soll der Volksentscheid dann auf eine Anmeldung zum Volksbegehren verzichten. Auch wenn also absehbar ist, dass weite Teile der Forderungen der Radaktivisten künftig reale Politik werden, ist der genaue Ausgang ihres Kampfes um die Fahrradstadt Berlin daher noch ungewiss. Einigen sich die Aktivisten und der Senat nicht, werden also aller Voraussicht nach die Bürger befragt.
Und was ist eigentlich mit dem berüchtigten Berliner Wetter? Ist es nicht ein noch größeres Hindernis als alle Lokalpolitiker, wenn aus der Autostadt wirklich mal eine Fahrradstadt werden soll? Nicht für die demonstrierenden Radler des Volksentscheids Fahrrad. Nicht einmal bei ihrer winterlichen Fahrt durch Berlin, für die einige von ihnen Nikolauskostüme angelegt haben. Sogar ein Baby fährt dick eingepackt in einem Anhänger mit. Das ist verkehrspolitische Erziehung, die mal wirklich früh ansetzt. Aktivistin Lena zieht sich die Handschuhe an, steigt aufs Rad und sagt: „Wir zeigen, dass Radeln keine Sommerangelegenheit ist!“
Titelbild: Gerhard Westrich/laif