Der dschihadistische Terror ist längst in Europa angekommen. Die Anschläge von Paris, Brüssel und Nizza sind wahrscheinlich nicht sein Ende. Aktualität und Dringlichkeit des ins Herz der westlichen Lebensweise zielenden Terrors zwangen den französischen Soziologen und prominenten Islamexperten Gilles Kepel gleich mehrmals, sein Buch „Terror in Frankreich“ zu überarbeiten.

Am 13. November 2015, da stand sein Buch unmittelbar vor der Drucklegung, verwandelten dschihadistische Killer unter anderem den Pariser Musikclub Bataclan während eines Auftritts der US-amerikanischen Rockband Eagles of Death Metal in ein Blutbad. Bei der deutschen Ausgabe verlief es ähnlich. Das Vorwort des streckenweise gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Antoine Jardin verfassten Buches ist datiert auf Juli 2016. Eigentlich waren die Seiten längst geschrieben, doch verlangte das Lkw-Attentat am 14. Juli auf der Promenade des Anglais in Nizza, bei dem mehr als 80 Menschen starben, eine Neufassung. Auch das Axtattentat in einem Regionalzug in Würzburg sowie der Selbstmordanschlag vor einem Lokal in Ansbach, bei dem 15 Menschen verletzt wurden, haben dann noch Eingang in die deutsche Fassung gefunden.

Dschihadismus von unten

Der islamistische Terror schert sich nicht um Grenzzäune (und schon gar nicht um Drucktermine). Mehr noch als Ausdruck eines Krieges gegen den Westen sei er, so Kepel, Ausdruck eines Krieges innerhalb des Islams, bei dem es vorrangig um das Recht gehe, den Islam hegemonial zu vertreten. Ein Hauptakteur dieses komplizierten und langewährenden Konflikts ist der IS (Islamischer Staat), der in den heiligen Schriften die Rechtfertigung seiner globalen Terroraktionen suche. Nicht nur in seinem Buch, auch in zahlreichen Interviews betont der in Frankreich unter Polizeischutz stehende Kepel, dass er eine direkte Verbindung zwischen Terrorismus und Islam ausschließe. Die Mehrheit der Muslime bekenne sich zum Islam – mehr nicht.

In Europa habe Frankreich in der gegenwärtigen „dritten Phase des Dschihadismus“, einem „Dschihadismus von unten“ ohne klare Hierarchie wie noch unter Osama bin Laden, die schwersten Folgen zu tragen. Als symbolträchtiges Beispiel dieser Bewegung gilt dem 1955 in Paris geborenen Professor am Institut d’études politiques de Paris das Massaker des Franko-Algeriers Mohammed Merah an einer jüdischen Schule in Toulouse. Es fand am 19. März 2012 statt – also genau am 50. Jahrestag des Waffenstillstands, der den Algerienkrieg beendete . Von vielen jungen Muslimen werde Frankreich bis heute als verhasster Kolonialherr betrachtet, der Krieg gegen diesen Gegner nun eben auf französischem Boden fortgesetzt. Ausführlich widmet sich der Autor dieser „retrokolonialen Dimension“ des Dschihad.

Der Salafismus und die rechtsextreme Front National schaukeln sich gegenseitig auf

Kepel zeigt, wie sich ein den kulturellen Bruch mit den westlichen Gesellschaften propagierender Salafismus und die Neigung von Teilen der französischen Bevölkerung, Marine Le Pens rechtsextremen Front National zu wählen, in den letzten Jahren wechselseitig verstärkten. Argumentativ überzeugend und ungemein differenziert analysiert er politische und soziale, kulturelle, psychologische und religiöse Motive insbesondere der auf französischem Boden agierenden (IS-)Dschihadisten.

Die sind in der Regel sehr jung, stammen aus französischen und belgischen muslimischen Migrantenfamilien oder sind später zum Islam konvertiert. Ihre Anfälligkeit für die Versprechen des Dschihadismus erklärt Kepel, und da ist er natürlich nicht der Einzige, anhand der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ausgrenzung großer Teile der muslimischen Bevölkerung. Dramatisch sichtbar wird dies in den Banlieues, den heruntergekommenen, von hoher Arbeitslosigkeit und allgemeiner Perspektivlosigkeit gezeichneten Vororten großer Städte wie Paris oder Marseille. In Deutschland gibt es – glücklicherweise – nichts Vergleichbares.

Was sich ändern muss

Die wochenlangen Unruhen in den Banlieues im Herbst 2005 haben für den Soziologen eine religiöse Dimension, die von den Medien verschwiegen worden sei. Ausgelöst wurden sie durch den Tod zweier Jugendlicher, die sich auf der Flucht vor der Polizei in einem Transformatorenhaus versteckt hatten und an einem Stromschlag starben. Drei Tage später, die Unruhen waren schon fast wieder abgeklungen, landete bei einem Polizeieinsatz eine Tränengasbombe im Eingang der Moschee Bilal im 15 Kilometer von Paris liegenden Vorort Clichy-sous-Bois. Im Internet und durch Mund-zu-Mund-Propaganda habe sich eine nicht zuletzt von den Dschihadisten instrumentalisierte Version verbreitet, nach der Polizei und französische Armee die Muslime angegriffen hätten. Unruhen entflammten daraufhin in fast allen Vorstädten. Für Kepel ein Schlüsselmoment der Entstehung des neuen Dschihadismus.

Von den Geheimdiensten lange übersehen oder sträflich unterschätzt, habe es die netzwerkartige, also dezentral organisierte dritte Dschihadisten-Generation auf das Erzeugen eines „Klimas des Schreckens“ in Europa abgesehen. Die darüber intendierten feindseligen Reaktionen gegenüber sämtlichen Muslimen würden, so die Vorstellung der Dschihadisten, zu einer Radikalisierung bislang friedlicher Muslime führen. Ziel sei ein großer Bürgerkrieg, in dem die europäische Gesellschaft schließlich untergehe. Ein mächtiges Kalifat würde auf ihren Trümmern errichtet werden.

Kepel glaubt nicht, dass diese ausgesprochen düstere Wunschvorstellung real werden könnte, da die überwältigende Mehrheit der Muslime so etwas überhaupt nicht wolle. Besonders heiter sind seine eigenen Zukunftsaussichten allerdings auch nicht: Die französische Gesellschaft sieht er zunehmend eingezwängt zwischen Dschihadismus und Rechtsextremismus. „Man hat das Gefühl, dass sich ein Bruch vollzieht. Ein omnipräsenter Argwohn, der Gefahr läuft, durch die Provokationen auf allen Seiten zu einer Art verkapptem Bürgerkrieg zu werden.“

Um den Dschihadismus zu besiegen, erzählte Kepel in einem Interview mit der „FAZ“, müsse Frankreich sich Fragen „zu einer besseren Polizei- und Geheimdienstarbeit stellen, zu den Zuständen in den Haftanstalten, die Brutstätten für radikale Dschihadisten sind“. Und selbstverständlich seien wir gefordert, „die soziale Inklusion der Einwanderer zu verbessern“.

Gilles Kepel (mit Antoine Jardin): „Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa“, Verlag Antje Kunstmann, München 2016, 304 Seiten, 24 Euro

Foto: France Keyser/M.Y.O.P./laif

Ein ausführliches Interview mit Gilles Kepel ist in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift ApuZ, in der es über Frankreich geht