Ich wollte in Bayern schon nicht zur Welt kommen. Die Ärzte im Klinikum Traunstein mussten mich deshalb per Kaiserschnitt aus dem Bauch meiner Mutter holen. Alles Verkeilen, alles Querstellen war umsonst: Ich sollte als Bayer geboren werden, genauer: als Oberbayer aus dem Südosten der schwarzen, krachledernen Provinz.

Meine ganze Jugend über habe ich mich dafür geschämt. Denn Bayern, dachte ich, das ist Traditionalismus und Frömmigkeit. Eine Welt zwischen Stammtisch und Herrgottswinkel. Obendrein heiße ich auch noch Josef, urbiblisch und in vierter Generation. Mein Vater, mein Großvater, mein Urgroßvater, alles Josefs.

Ich habe es ja versucht

Es ist nicht so, als hätte ich Bayern keine Chance gegeben. Im Gegenteil: Ich habe fast jede Station mitgenommen, die zu einer bayerischen Dorfjugend gehört: Selbstverständlich war ich im Fußballverein. Natürlich bin ich zur Kommunion gegangen, mit 13 Jahren habe ich mich auch firmen lassen. Gehörte sich so. Genauso, wie es sich gehörte, mit 14 der Freiwilligen Feuerwehr beizutreten. Sogar in einer Trachtenkapelle habe ich gespielt, bin jeden Sonntag in Lederhose aus dem Haus gegangen.

Ich hatte also allen Grund, mich hyperbayerisch zu fühlen. Trotzdem konnte ich mich mit meiner Umgebung nicht identifizieren. Warum, das weiß ich gar nicht so genau. Ich weiß nur, dass ich dem Maibaumaufstellen oder dem Faschingszug nicht wochenlang entgegengefiebert habe. Dass mir die Berge und die Seen, dieser ganze Naturporno, ziemlich egal waren. Und dass mich irritiert hat, was bis heute in der Kern-DNA der Bayern gespeichert ist: die Aufteilung der Welt in Bayern und Nichtbayern. In Hiesige und Dasige, „wir“ und „die anderen“.

Alles, nur kein Preuße

Das ging schon vor der Haustür los. Auf der einen Seite unser Dorf, 1.000 Einwohner, ein Kaff. Auf der anderen Seite die Stadt, Traunstein, nur vier Kilometer weiter, auch nicht gerade mondän. Trotzdem: Wer aus Traunstein kam und hochdeutsch sprach, dem hat man im Dorf das Etikett „Preuße“ verpasst. Paul zum Beispiel, mein bester Freund während der Schulzeit: ein Preuße, einer, der „nach der Schrift redet“. Warum man das betonen muss, habe ich nicht verstanden. Wie ich auch das Trara nie verstanden habe, wenn neue Leute ins Dorf gezogen sind. Zugezogene: suspekt. Wenn sie dann noch kein Bairisch gesprochen haben: erst recht suspekt.

Irgendwann wurde mir das zu viel. Der Brauchtumskram, das Nachbarschaftsgedöns, all das, was ich für „das Bayerische“ hielt. Ich stand kurz vor der Oberstufe am Gymnasium. Männer in Lederhosen waren für mich inzwischen Befürworter autoritärer Strukturen. Also bin ich aus der Trachtenkapelle ausgestiegen, aus dem Fußballverein, aus der Feuerwehr.

Habe mich in alle möglichen Winkel der Popkultur verkrochen, mir die Haare wachsen lassen und unmögliche Klamotten getragen. Die Reaktion im Dorf: irritiert. Man muss nicht jeden Scheiß mitmachen – den Satz habe ich sehr oft gehört.

Ich wollte längst weg, nach dem Abitur konnte ich dann. Aber Bayern hat mich verfolgt. Egal, wo ich neue Leute kennengelernt habe, Berlin, Hamburg, Mannheim, nach ein paar Minuten kam immer: „Du bist aber nicht von hier.“ Freilich, mein rollendes „R“ hatte mich nach dreieinhalb Wörtern verraten. Ich war aufgeflogen. Und weil Bayern so eine knallige Bildsprache hat – Brezen, Maßkrüge und Dirndl kennt jeder –, schob mein Gegenüber meistens noch ein paar Stichwörter hinterher: das Oktoberfest, der FC Bayern, die weißblaue Assoziationskette halt.

Der Versuch, das rollende „R“ zu unterdrücken: vergeblich

Am liebsten hätte ich mein Bayer-Sein abgelegt. Nächster Versuch: Ich habe darauf geachtet, „nich“ statt „nicht“ zu sagen, „wichtich“ statt „wichtig“. Spätestens bei meinem rollenden „R“ habe ich gemerkt, wie behämmert das Gurgeln klingt, das ich alternativ parat hatte. Den Rest habe ich auch schnell wieder sein lassen.

Ich war schon über 20, hatte schon ein, zwei Semester studiert, als ich mich manchmal noch bei dem Gedanken erwischt habe, dass es doch großartig sein muss, wenn man Bremer ist. Oder Hannoveraner, Dortmunder, irgendwas nördlich von Hof. Aber ich kam nicht drum rum: Bayern und ich, das sollte so bleiben.

Ungefähr zur selben Zeit lernte ich ein Bayern kennen, das mir im Dorf nicht begegnet ist. Ein Freund hatte mir von den Regisseuren Rainer Werner Fassbinder und Herbert Achternbusch erzählt. Nachdem ich ein paar ihrer Filme gesehen hatte, „Faustrecht der Freiheit“ von Fassbinder oder Achternbuschs „Das Gespenst“, habe ich einen bedenklichen Teil meines Grundstudiums nur noch damit verbracht, mich in ihr Werk hineinzunerden. War fasziniert von dem anarchischen Bayern, das sie verkörpern. Habe die Vorgarten-Bürgerlichkeit erkannt, die sie in ihren Filmen hopsnehmen, die doppelbödige Frömmigkeit und die bayerische Arroganz. Habe verstanden, dass auch Fassbinder und Achternbusch Bayern sind. Als ich dann noch erfahren habe, dass der Filmemacher Werner Herzog in Sachrang aufgewachsen ist, nicht allzu weit von Traunstein, dachte ich: Vielleicht doch nicht so schlimm, von hier zu kommen.

Bayerischer, als ich mir eingestanden habe

Dass es in Bayern auch widerborstige Typen gibt, hat mich beruhigt. Nach und nach habe ich mir eingestanden, dass ich viel bayerischer bin, als ich zugeben wollte. Vor allem in der Sprache. Ein Beispiel: Fluchen im Straßenverkehr. Ich nenne andere Autofahrer nicht „Idioten“. Bei mir sind es „Rindviecher“ oder „Hornochsen“. Überhaupt, der Dialekt: Sosehr ich zwischendurch versucht habe, meine Sprache zu verstellen, am wohlsten fühle ich mich, wenn ich Bairisch spreche. Vor Freunden von früher sowieso. Vor Arbeitskollegen oder Mitbewohnern rutsche ich mittlerweile auch manchmal ins Bairische. Meistens dann, wenn ich sie besser kenne, wenn ich merke, dass ich ihnen vertraue.

Vielleicht musste ich nur lange genug von zu Hause weg sein, nur genug Filme von Regisseuren sehen, denen es selbst zu eng war zwischen Stammtisch und Herrgottswinkel. Knapp zehn Jahre nachdem ich aus meinem Dorf weggezogen bin, finde ich es jedenfalls sehr okay, Bayer zu sein. Sogar mit meinem Namen habe ich Frieden geschlossen. Jedes Jahr zum Namenstag mit Vater und Großvater telefonieren: hat auch was. Macht man eh zu selten. Nur Lederhosen trage ich bis heute nicht. Sind mir immer noch zu sehr Statement. Außerdem stehen sie mir nicht, und überhaupt: Man muss nicht jeden Scheiß mitmachen.

Titelbild: Simon Koy