Streit

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Sollten Geimpfte Freiheiten zurückbekommen?

Nach der Covid-19-Impfung ohne Test zum Friseur und Shoppen? Das stellt das Gesundheitsministerium gerade in Aussicht. Aber ist es gerecht, dass Geimpfte wieder mehr dürfen? Unsere Autorinnen streiten

Impfprivilegien

Update, 9. Mai: Bundeskabinett, Bundestag und Bundesrat haben vergangene Woche nacheinander Lockerungen beschlossen: Für vollständig gegen das Coronavirus Geimpfte und von der Erkrankung Genesene gelten nun im öffentlichen Leben die Erleichterungen, die bislang nur Menschen mit negativem Coronatest hatten.

Ja, Menschen, die andere nicht gefährden, darf man nicht einschränken

sagt Julia Lauter

Wer in die Zentralafrikanische Republik oder die DR Kongo einreisen will, muss eine Impfung gegen Gelbfieber nachweisen. Wer Niger oder Malaysia besucht, sollte gegen Kinderlähmung immun sein. Und wer im Jahr 2021 auf die Seychellen oder nach Slowenien reisen will, muss eine Covid-19-Impfung nachweisen, wenn er einen negativen PCR-Test oder mehrere Nächte in Quarantäne vermeiden möchte.

Während niemand gegen die gängigen Reiseimpfungen aufbegehrt, ist die Sache mit den Covid-Impfungen heikler. Auch weil sie nicht nur den internationalen Reiseverkehr, sondern bald schon unseren Alltag betreffen könnten. Private Anbieter wie Konzertagenturen, Fluglinien und Reiseveranstalter wollen die Impfung als Einlassbedingung adaptieren. Wer Antikörper hat, dem steht die Welt offen?

Wenn Angst und Neid regieren

Für die meisten Menschen ist die Vorstellung einer baldigen Rückkehr zur Normalität ein sehnsuchtsbeladener Gedanke. Cafés, Kino, Saunagänge! Doch dass wir nicht alle gleichzeitig in den Alltag zurückkehren können, scheint bei vielen Deutschen Ängste zu wecken. Und Neid. In einer aktuellen repräsentativen Umfrage der Wochenzeitung „Die Zeit“ lehnten es 68 Prozent der Befragten ab, dass Geimpfte ihre Freiheitsrechte zurückbekommen sollen.

Die Debatte darüber ist mit dem Wort „Impfprivilegien“ überschrieben. Und da fängt es schon an: Das Wort „Privileg“ suggeriert, man dürfe mehr als andere, wenn es in Wirklichkeit andersherum ist: Jene, die keine Antikörper im Blut nachweisen, dürfen weniger – wer geimpft ist, bekommt nur die ganz normalen Freiheiten wieder, die alle hierzulande normalerweise genießen.

Niemand hat die Freiheit, andere zu gefährden

Angst und Neid sind keine guten Berater. Das zeigt ein Blick auf das, was nicht gefühlt, sondern gesellschaftlich festgeschrieben ist. „Jede Neuinfektion ist die Ansteckung eines Menschen durch einen anderen, und zwischen diesen bestehen – anders als zu Erdbeben – Rechtsbeziehungen“, schreibt Rechtsphilosoph Christoph Bublitz im Essay „Es gibt keine Freiheit, Teil einer Infektionskette zu sein“. Auch wenn wir uns gerne als losgelöst agierende Individuen sehen: Wir haben unseren Mitmenschen gegenüber Pflichten. Zum Beispiel die, sie nicht zu verletzen.

Diese Pflicht gilt auch für Gefahren, die vom eigenen Körper ausgehen. Da wir bei einer Covid-19-Erkrankung nicht sicher wissen, ob wir ansteckend sind oder nicht, waren Einschränkungen unserer Freiheiten lange Zeit die einzige Möglichkeit, den Zusammenbruch des Gesundheitssystems und den Tod vieler Menschen zu verhindern – bis jetzt.

Im Kampf gegen die Pandemie sind Impfstoffe ein vielversprechendes Werkzeug. Sie schützen in einem hohen Maße gegen eine Covid-19-Erkrankung. Erste Untersuchungen weisen darauf hin, dass vollständig Geimpfte eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit haben, eine asymptomatische Infektion zu erleiden und andere anzustecken.

Die US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention haben deshalb bereits erste Verhaltenslockerungen für Geimpfte zugelassen. Der Deutsche Ethikrat ist zurückhaltender, dennoch sagte dessen Vorsitzende Alena Buyx mit Blick auf die neuesten Erkenntnisse, „dass diese ganz harten individuellen Freiheitsbeschränkungen rein rechtlich sehr, sehr schwierig durchzuhalten sind, wenn der sogenannte Sachgrund entfällt, der Sachgrund der Infektiösität.“ Aus dem Gesundheitsministerium heißt es, dass Geimpfte vielleicht schon im April erste Freiheiten zurückerhalten könnten.

Wer auf gleiche Rechte für alle pocht, soll lieber mal global denken

Sollten weitere Studien belegen, dass Impfungen die Weitergabe von SARS-CoV-2-Viren verhindern und immer mehr Menschen nach dem Prinzip „Alt vor Jung“ geimpft werden, dann könnte die Generation 60 plus schon bald wieder das Leben genießen – mit beschwingten Kreuzfahrten, Theaterabenden und Bruce-Springsteen-Konzerten. Denn privaten Anbietern steht es frei, ihre Waren und Dienstleistungen nur geimpften Personen anzubieten.

Auch wenn das für einige Pandemiemüde schwer zu ertragen ist: Außer vagen Gefühlen gibt es keinen Grund, Menschen einzuschränken, die keine Gefahr für andere darstellen. Wer sich davon ungerecht behandelt fühlt, dem mag ein Blick über den Tellerrand der BRD helfen: In den meisten Ländern Afrikas und in den armen Staaten Zentral- und Südostasiens werden die Menschen noch bis zu zwei Jahre auf den Schutz vor Covid-19 warten müssen. Wer auf gleiche Rechte für alle pocht, sollte auch so lange auf den Kneipenbesuch verzichten, bis die letzten Impfwilligen in Afrika ihre Spritze bekommen haben. Sinnvoller wäre es, wir würden uns stattdessen für eine faire globale Impfstoffverteilung einsetzen und die Kampagne gegen die Freiheitsrechte der Geimpften schnell begraben.

Julia Lauter schreibt für Magazine und Zeitungen über Wissenschaft,
Umwelt und soziale Bewegungen – sie ist in der allerletzten Impfkategorie und hofft, dass bis zum Herbst nicht noch alles in Flammen aufgeht.

Collagen: Renke Brandt

Nein, Grundrechte müssen für alle gelten, sonst sind sie keine

meint Anina Ritscher

Gesundheitsminister Jens Spahn möchte Geimpften die Möglichkeit geben, zu reisen oder zum Friseur zu gehen, ohne ein negatives Testergebnis vorzulegen. Damit wären Geimpfte und Menschen mit negativem Testergebnis gleichgestellt. Die EU geht mit ihrem „Impfausweis“ noch weiter und möchte Geimpften auch die Quarantänepflicht ersparen und so internationale Reisen erleichtern. Politiker:innen aus fast allen Parteien sind sich einig, dass beides gute Ideen sind. Aber ist das fair?

Bald schon werden weitere Fragen aufkommen: Sollte der Immunitätsnachweis noch mehr Freiheiten wiederherstellen? Sollten Geimpfte etwa auch von Maskenpflicht und Kontaktverbot ausgenommen oder ihnen Restaurant- und Kinobesuche ermöglicht werden?

Privilegien fördern Ungleichheiten

Diese Fragen müssen gestellt werden, doch sie bringen auch unangenehme Überlegungen zutage. Denn weitreichende Privilegien für Geimpfte könnten Ungerechtigkeiten verschärfen und Gräben vertiefen.

Befürworter:innen der Impfprivilegien bevorzugen es, von einer Rückkehr zu den zeitweise eingeschränkten Grundrechten zu sprechen, anstatt von Sonderrechten. Doch Grundrechte sind nur dann etwas wert, wenn sie ausnahmslos für alle gelten.

Als Argument wird daraufhin manchmal herangezogen, dass es gerecht sei, wenn diejenigen Menschen, die in der Krise am meisten litten, also die Risikopatienten, da auch schneller rauskommen. Ein Rentner etwa, der seine Ehefrau nach Monaten wieder im Pflegeheim besuchen möchte, sollte schnellstmöglich das Recht dazu haben. Das klingt erst einmal logisch.

Das Problem mit der Impfreihenfolge

Trotzdem ist es unsinnig, die Befreiung von Corona-Maßnahmen an die Immunität zu knüpfen. Denn das verkompliziert die ethischen Überlegungen, die der Impfstrategie zugrunde liegen. Viele Menschen, die besonders unter den Maßnahmen leiden, gehören nicht zur Risikogruppe und werden demnach spät geimpft. Bewohner:innen in Asylunterkünften etwa oder Obdachlose.

Wäre es dann nicht gerechter, diese Menschen hätten ebenfalls verfrühten Anspruch auf eine Impfung – wenn Geimpfte von den Beschränkungen befreit würden? Stattdessen werden bei der Festlegung Reihenfolge insbesondere das Alter und Vorerkrankungen berücksichtigt. Das ist nicht gerecht.

Zurzeit wird der Impfstoff aber noch nicht einmal gemäß dem aktuellen System der Impfstrategie gerecht verabreicht. Bereits jetzt gibt es zahlreiche Berichte über einzelne Menschen – zum Beispiel Politiker:innen –, die sich ihre Impfung erschlichen haben, obwohl sie gemäß Impfstrategie noch nicht an der Reihe waren. Es ist vorstellbar, dass solche Vorfälle sich häufen werden. Mit dem Immunitätsnachweis würden solche sozialen Ungerechtigkeiten noch verschärft.

Für den Besuch im Pflegeheim bräuchte es abgesehen davon nicht zwingend einen Immunitätsausweis. Der Ethikrat spricht stattdessen in einer Stellungnahme davon, dass Ärzt:innen in besonderen Fällen eine Befreiung von den Corona-Einschränkungen ausstellen – zum Beispiel mit einem aktuellen PCR-Test – und so etwa Besuchsregeln in Pflegeheimen für einzelne Personen lockern könnten.

Bringen Rechte auch Pflichten?

Würden weitreichende Impfprivilegien eingeführt, müssten wir zudem auch darüber reden, ob es tatsächlich nur um Freiheiten ginge – oder auch um Pflichten. Schließlich würde mit der Immunität, zumindest wenn man es zu Ende denkt, auch der Anspruch auf staatliche Hilfestellungen hinfällig werden. Könnten Arbeitnehmer:innen etwa dazu verpflichtet werden zu arbeiten, während ihre ungeimpften Kolleg:innen noch in Kurzarbeit sind?

Ganz zu schweigen von Verschwörungsideolog:innen, die sich mit der Einführung eines Immunitätsausweises in ihrer Befürchtung bestätigt sähen, dass wir uns in einer vermeintlichen „Impfdiktatur“ befinden. Impfprivilegien könnten diese ohnehin schon gefährliche Stimmung womöglich weiter anheizen – das ist es nicht wert.

Diese Pandemie ist ein gesamtgesellschaftlicher Kraftakt. Sie erfordert Mühen von jedem und jeder Einzelnen. Auch der Weg aus der Pandemie hinaus ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und muss von allen gleichermaßen mitgetragen werden. Sonderrechte für Geimpfte würden das Gegenteil suggerieren: Einige könnten – oder müssten – die Pandemie schneller überwinden als andere.

Das würde sogar rückblickend die Appelle der Bundesregierung unglaubwürdig machen. Schließlich waren Zusammenhalt und Solidarität die politische Message in der Pandemiebekämpfung. Und jetzt soll mit einem Immunitätsausweis wieder in vielen Bereichen zum individualistischen Status quo zurückgekehrt werden? Es wäre schädlich für die Bewältigung weiterer Krisen, die bestimmt kommen werden, wenn die Forderung nach Solidarität sich als Floskel enttarnt.

Anina Ritscher schreibt über Rechtsextremismus, Desinformation und Verschwörungsideologien – mit Impfverweigerung schlägt sie sich also schon länger herum. Sobald sie geimpft ist, will sie wieder eine ganze Nacht in der Kneipe verbringen.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.