„Wenn ich du wäre, würde ich nicht weiter in diese Richtung gehen.“ Der ältere Herr in blauer Badehose wackelt mit dem Zeigefinger und deutet auf eine Anhöhe 300 Meter südlich von uns. Sandfarbene Häuser, verwinkelt übereinandergebaut, der Turm eines Minaretts. „Da ist es schlimmer als in Gaza. Filme über Refugee Camps werden immer dort gedreht.“ Ich nicke folgsam – das habe ich schon ein paar Mal gehört – und mache mich trotzdem auf den Weg nach Dschisr az-Zarqa, dem letzten arabischen Dorf an Israels Mittelmeerküste.
Es könnte ein traumhaftes Städtchen sein: Der Strand reicht bis ans Ortsende, kleine Kutter treiben auf den Wellen, es riecht nach Fisch und Salz. Doch irgendetwas stimmt hier nicht: Verrostete Autos liegen herrenlos in den Dünen, Müll türmt sich meterhoch. Dschisr ist alles andere als ein Kurort oder Touristenmagnet. 80 Prozent der Einwohner leben unter der Armutsgrenze, rund die Hälfte der Einwohner ist unter 19 Jahre alt. Der Ort hat eine der höchsten Kriminalitätsraten des Landes. Kinder prägen das Straßenbild. Zu zweit, zu dritt, zu viert rasen sie auf ihren Fahrrädern bergauf, bergab, wissen offenkundig nicht viel anderes mit sich und ihrer Zeit anzufangen. Nur noch 15 Prozent von ihnen machten laut den Zahlen des israelischen Central Bureau of Statistics 2016 Abitur. Dafür soll die Zahl der Schulabbrecher hier so hoch sein wie kaum irgendwo sonst im Land.
Allen Widrigkeiten zum Trotz hat Neta Hanien sich bei ihrem ersten Besuch sofort in den Ort verliebt. Die Anwältin, Tauchlehrerin und Israelin fühlte sich an die Beduinencamps im Sinai am Roten Meer erinnert. „In meinem Leben bin ich viel gereist und habe das touristische Potenzial hier erkannt. Dschisr liegt direkt am Meer, und einer der bekanntesten Wanderwege, der Israel Trail, verläuft direkt durch den Ort. Also bin ich von Tür zu Tür gegangen und habe nach einem Partner für ein Backpacker-Hostel gesucht“, erzählt sie. Allein, als Außenseiterin, Israelin und Frau wäre ein solches Unternehmen eine Unmöglichkeit. Orte wie Dschisr beruhen auf Vertrauen und Familienbande. Auch ihre Freunde und Verwandten hielten sie für waghalsig und naiv. „Aber dann traf ich Ahmad.“
Von den reichen Nachbarort getrennt durch einen Wall – offiziell eine Lärmschutzwand
Ahmad Juha nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Die hellblauen Augen stechen aus dem braun gebrannten Gesicht hervor. Jeder hier kennt Juha. Er betreibt nicht nur mit Neta das Hostel, ihm gehört in Dschisr auch ein Café. Seine sieben Kinder helfen dort oft als Kellner aus. Und die Männer des Ortes trinken hier Espresso aus kleinen Pappbechern und rauchen selbst gedrehte Zigaretten. Arbeit gibt es für sie weder hier im Ort noch sonst irgendwo. „Aufgrund der Vorurteile über Dschisr werden sie fast nirgendwo angestellt“, erzählt Juha in fließendem Hebräisch. Einige Frauen finden Arbeit als Putzfrauen in jüdischen Siedlungen. Jeden Abend rollen 20 Busse durch den Tunnel nach Dschisr az-Zarqa und bringen die Arbeiterkolonne wieder nach Hause. Nur über eine Brücke und durch diesen Tunnel, vier Meter breit, knapp vier Meter hoch, ist der Ort erreichbar. Eine Abfahrt von der 100 Meter entfernten Autobahn im Osten gibt es nicht. Dschisr ist wie eingekesselt: Im Westen das Mittelmeer, im Norden die Fischfarmen des Kibbuz Ma’agan Micha’el, und südlich des Ortes liegt Caesarea, eine der reichsten Nachbarschaften des ganzen Landes. Auch Benjamin Netanjahu besitzt dort ein Haus mit Rasensprenkler und Malibu-Feeling. Getrennt werden die beiden Ortschaften durch einen Wall, bei dem es sich offiziell um eine Lärmschutzwand handelt. „Damit man unseren Muezzin nicht hört, sagen sie“, erklärt Ahmad. „Außerdem ist es bei uns Tradition, an Feiertagen mit Gewehren in die Luft zu schießen. Das gefällt den Anwohnern nicht.“
„Die arabischen Kinder führen die Reisegruppen selber durch das Dorf. Sie sind gezwungen, Englisch zu sprechen und ihre Social Skills mit Fremden zu üben“
Neta lacht und schüttelt ihren braunen Lockenkopf. Das könne sie schon irgendwie verstehen, gibt sie zu. Als das Hostel bereits den Betrieb aufgenommen hatte, kam ihr und Juha die Idee zu einem Social Business. Sie stellten internationale Volontäre im Hostel an. „Wir wollen, dass sie teilhaben am Leben in der Stadt“, sagt Juha und deutet auf ein Holzschild mit dem Wort „Supermarket“. Die Freiwilligen haben im ganzen Ort Wegweiser für die Touristen angebracht. Auf Englisch mit blauer Farbe auf Holz. „Am Anfang waren die Anwohner über die Anwesenheit von Fremden in der Stadt so aufgeregt, dass sie ihnen alles umsonst geben wollten. Ein Eiscafé ist deswegen fast bankrottgegangen“, sagt Juha. Gemeinsam mit Neta gründete er das Young-Leaders-Programm, um Kinder aus der Stadt zum Austausch mit den Gästen im Hostel zu motivieren. „Die arabischen Kinder führen die Reisegruppen selber durch das Dorf. Sie sind gezwungen, Englisch zu sprechen und ihre Social Skills mit Fremden zu üben“, sagt Neta. Viele kommen nur ein Mal und dann nie wieder. Aber andere bleiben. „Das hier wird ihr Ort des Friedens, ein zweites Zuhause.“ Für die meisten sei es nicht einfach, an dem Programm teilzunehmen: „Oft werden sie von ihren Freunden gehänselt und ausgelacht.“ Neta sieht sich an der Kreuzung um. An einer Straßenecke plaudern ein paar bunt gewandete Frauen, aus einem Auto wummert lauter Techno. Hupen, Hundebellen, Kindergeschrei. Ein Falafel-Laden, eine Apotheke und Juhas Café. Von allen Seiten isoliert, ohne Möglichkeit des Wachstums, scheint das Leben in Dschisr immer gleich zu bleiben. Und irgendwie scheint keiner so recht die Schuld daran zu tragen. „Es ist gut, wenn die Kinder sich trauen herzukommen“, schließt die vierfache Mutter nachdenklich. „Was sie hier lernen, ist ihre Eintrittskarte zur Außenwelt.“
Menschen, die sowohl ihren arabischen Nachbarn als auch den Israelis ein Dorn im Auge sind
Die Einwohner Dschisrs haben mit kulturellen Stigmata zu kämpfen, die sie daran hindern, am israelischen Arbeitsmarkt teilzuhaben. „Sie sind sowohl den Israelis als auch ihren arabischen Nachbarn ein Dorn im Auge“, erzählt Neta. Einst siedelten Ghawarina-Beduinenfamilien aus Jordanien hier, Nomadenstämme, die ihre Büffel in den umliegenden Sümpfen weideten und widerstandsfähig gegen die in dieser feuchten Gegend weit verbreitete Malaria zu sein schienen. „Man war misstrauisch. Die Menschen hier waren offensichtlich anders als ihre palästinensischen Nachbarn.“ Als Anfang der 1920er-Jahre die ersten jüdischen Einwanderer in die Gegend vordrangen, halfen die Ghawarina ihnen dabei, die todbringenden Sümpfe auszutrocknen. Viele der jüdischen Arbeiter starben, und Ghawarina gingen in die Geschichtsschreibung der Palästinenser als Kollaborateure ein. Die jüdischen Siedler hingegen gaben ihnen zum Dank für die Hilfe einen Hügel am Strand, auf dem Dschisr seit rund einem Jahrhundert gewachsen ist. Genug Weideland für Vieh gab es dort nicht. Und der Handel mit den arabischen Nachbarn wollte nicht mehr in Schwung kommen. „Selbst Ehen mit Menschen aus Dschisr sind seither verpönt“, erzählt Neta. „Deswegen heiraten sie dort lediglich Menschen aus ihrem Ort.“ Mittlerweile hat das Dorf 14.000 Einwohner, Dschisr platzt aus allen Nähten. Auf vielen Dächern ragen Metallstäbe in die Höhe und künden davon, dass hier wahrscheinlich bald eine weitere Etage draufgesetzt werden muss.
„Wir sind die Ersten, die überhaupt Business und Geld in den Ort bringen“
Eine Lösung für Dschisr muss her. Das wissen sowohl die Einwohner als auch die Regierung. „Ich bin allerdings nicht aus politischen Beweggründen hierhergekommen“, betont Neta. Ein arabisch-israelisches Business, ein ideologisches Koexistenz-Projekt sei nicht ihre Motivation gewesen: „Es war einfach mein heimlicher Traum, ein eigenes Hostel zu haben.“ Jeder Tourist, der in Juha’s Guesthouse nächtigt, gibt ungefähr rund 25 Euro im Ort aus. 60 Prozent der Backpacker kommen aus der ganzen Welt, 40 Prozent aus Israel. Zurzeit wohnen vier Dänen und eine Amerikanerin in dem bunt bemalten Hostel. „Wir sind die Ersten, die überhaupt Business und Geld in den Ort bringen“, sagt Neta stolz. „Aber ich will, dass mehr Menschen aus Dschisr selbst solche Projekte angehen. Der Erfolg muss hier im Ort bleiben.“
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