Thema – Körper

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„Wir wären alle freier, wenn wir dick sein dürften“

„Dick“ und „fett“ sollten neutrale Wörter sein, sagt Judith Schreier, wie groß oder braunäugig. Ein Gespräch über Gesellschaftsnormen, Gesundheitsfragen und Body Positivity

Judith Schreier

fluter.de: Aus deiner Sicht als Fettaktivistin – wie sollte die Zukunft aussehen?

Judith Schreier: Alle sollten dick sein dürfen, und Fettfeindlichkeit soll verschwinden. Niemand sollte mir Charaktereigenschaften zuschreiben, nur weil ich dick bin. Wir sollten überall Klamotten kaufen können. Und in medizinischen Bereichen ernst genommen werden.

Vor dem Wort „dick“ schrecken viele zurück. Warum nutzt du es?

Ich nenne mich dick und fett. Oder beide Wörter mit Unterstrich, also dick_fett, um auf die Konstruktion dahinter hinzuweisen: Wörter sind gemacht, erfundene Normen; also können wir uns auch unsere eigenen erfinden. Ich verwende auch mehrgewichtig. Das ist neutraler. Auf keinen Fall spreche ich von „übergewichtig“ oder „adipös“. Beide Begriffe pathologisieren, Übergewicht propagiert dazu noch das Normalgewicht als absolutes Körperideal. Die Fat-Acceptance-Bewegung lehnt solche Begriffe ab.

„Dünne Körper sind in unserer Gesellschaft das Nonplusultra. Und wo der Körper ein Statussymbol ist, wird Fettsein zum Versagen der Einzelnen“

Woher kommt die Bewegung?

Offiziell ist sie Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre in den USA entstanden. Sie will Fettfeindlichkeit abschaffen und dicke Menschen von Diskriminierung befreien. Fat Acceptance will aber auch die Angst vor dem Fettsein und dem Wort „fett“ abbauen. Ein grundlegendes Ziel ist es, Menschen ohne Scham beschreiben zu können und dem Wort den beleidigenden Charakter zu nehmen. Als ich aufgewachsen bin, fehlten mir Begriffe, um mich zu beschreiben, alles hatte eine Konnotation, zum Beispiel mollig oder kurvig. Dick und fett sollten aber neutrale Wörter sein, wie groß oder braune Augen. Wenn wir die Angst abbauen und fett als faktische Begebenheit wahrnehmen, kommen wir gesellschaftlich weiter.

Trotzdem ist Fat Acceptance ein Nischenthema.

Das liegt daran, dass wir unseren Wert über unser Aussehen definieren. Beziehungsweise dass er von außen definiert wird. Dünne Körper sind in unserer Gesellschaft das Nonplusultra. Und wo der Körper ein Statussymbol ist, wird Fettsein zum Versagen der Einzelnen. Sie bekommen die Schuld an ihrem Dicksein, werden pauschal als faul, dumm und ungesund abgestempelt. Dabei gibt es so viele Formen von Dicksein und so viele Gründe dafür.

Woher kommen die Vorurteile?

In den vergangenen 200 Jahren hat sich die Annahme verfestigt, man könne seinen Körper leicht durch Sport und Ernährung manipulieren. Die Diätkultur ist tief in unseren Köpfen verankert, ohne dass wir es merken. Deshalb ist es auch wichtig, dass feministische Kämpfe Fat Acceptance mitdenken: Es betrifft alle. Das Diktat zur Dünnheit und Fitness reguliert das Leben vieler, nicht nur dicker Menschen. Das muss im Kampf um eine befreite Gesellschaft mitgedacht werden. Wir wären alle freier, wenn wir dick sein dürften.

„Ich kenne viele Menschen, die fettaktivistisch sind, den Begriff Body Positivity aber gar nicht mehr benutzen“

Was haben nicht-dick_fette Menschen konkret von eurer Bewegung?

Körper sind unterschiedlich. Dass ein Mensch dünn ist, kann ein genetischer Zufall sein. Viele Dünne bleiben aber über die tägliche Selbstkontrolle dünn. Wir können in keinem Supermarkt stehen, in kaum einem Magazin blättern, ohne von Diätprodukten und Körpernormen beeinflusst zu werden. Eine Welt ohne diese ständige Selbstdisziplinierung stelle ich mir für Menschen aller Körperformen sehr schön und befreiend vor. Und nicht zuletzt sind dicke Menschen keine gesonderte Gruppe, sondern überall, im Freundeskreis, in der Familie, im beruflichen Umfeld. Ich glaube, wer keine dicken Menschen zum Freundeskreis zählt, muss sich dahin gehend eh noch mal reflektieren.

Hast du als fette Person konkrete Forderungen an feministische Kreise?

Wir wollen in Aufzählungen mitgenannt werden. Wenn es Panels gibt, denkt dicke Perspektiven mit und lasst dicke Menschen sprechen. Und ganz praktisch wünsche ich mir stabile Sitzmöglichkeiten, die nicht eng an eng stehen, zum Beispiel Stühle ohne Armlehnen. Wenn es ein Essen oder Buffet gibt, okay. Aber es sollte darauf aufmerksam gemacht werden, dass man das Essverhalten anderer Menschen nicht kommentiert. Sogar in feministischen Kreisen wird Essen ständig als gesund oder ungesund gelabelt, obwohl das individuell verschieden ist.

Allgemein, auch bei Ärzt*innen, gilt Dick_Fettsein als ungesund …

Dicksein beeinflusst den Körper. Trotzdem sind nicht alle dünnen Körper automatisch gesund und alle dicken Körper ungesund. Es ist komplexer. Abnehmen bringt den Körper in Stresssituationen, die genau die Symptome hervorrufen können, die durch das Abnehmen angeblich vermieden werden. Und die Diskriminierung, die dicke Menschen tagtäglich erfahren, löst wiederum häufig extreme Stresssymptome aus, die den Körper schädigen. Gesundheit wird oft zu eng und zu normativ gedacht. Ein Leben in einem dicken Körper, in dem man sich wohlfühlt, scheint mir ein angenehmeres Leben als eines in einem Körper, der im Namen der Gesundheit stets und ständig getrimmt wird, dünn zu sein.

Viele Fettaktivist*innen weigern sich deshalb, diese Frage zu beantworten.

Es ist ein Kampf gegen Windmühlen. Deshalb fokussiert sich die Bewegung auf Zugang und Respekt – auch im medizinischen Bereich. Wenn Ärzt*innen dicke Menschen als komplex betrachten, bleibt die Antwort auf diese Frage irrelevant.

Judith Schreier hat Amerikanistik studiert. Gerade promoviert sie zu autobiografischen Texten dicker Frauen in der nordamerikanischen Literatur.

Als Aktivistin für Fat Acceptance versuchst du, dick_fette Menschen zusammenzubringen, was schwer ist. Woran liegt das?

Die Gruppe, die Dicksein für sich annimmt, ist einfach sehr klein, weil einem von außen so viel Scham eingeredet wird. Dicke tun sich selten zusammen, um für eine größere Sache zu kämpfen, weil sie oft denken: „Ich bin vielleicht noch ein Jahr dick, und dann habe ich die Kraft, abzunehmen.“

Dabei hat sich viel getan, vor allem auf Social Media, besonders unter dem Stichwort „Body Positivity“. Viele Aktivist*innen finden den Begriff problematisch. Warum?

Sein Hintergrund ist heute fast unsichtbar. Body Positivity kommt aus der Fat-Acceptance-Bewegung der 90er-Jahre. Ich finde, es hat nach wie vor Power, weil man so viele Dinge einschließen könnte: Pickel, Akne, Cellulite und so weiter. Aber momentan wird er halt individualistisch ausgelegt und verliert dabei an Radikalität. Es geht nur noch um Darstellung. Wenn man auf Instagram schaut, welche Körper unter dem Hashtag dargestellt sind, nähern die sich alle der Norm an: Es sind mehr und mehr weiße und dünne Körper. Was wiederum Marken kommerziell nutzen: Mode- und Kosmetikindustrie instrumentalisieren Body Positivity.

Also sind Fat Acceptance und Body Positivity gar nicht zwangsläufig verknüpft?

Ich kenne viele Menschen, die fettaktivistisch sind, den Begriff Body Positivity aber gar nicht mehr benutzen. Ich bin geteilter Meinung. Wenn ich Workshops mit Jugendlichen mache, die noch gar keinen Zugang zu diesen Themen haben, kann Body Positivity ein guter Einstieg sein. Er kann helfen, Fat Acceptance aus der Nische zu holen.

Body Positivity ermutigt, sich im eigenen Körper schön und selbstbewusst zu fühlen. Body Neutrality hingegen konzentriert sich eher darauf, wie man sich im eigenen Körper fühlt und was dieser zu leisten imstande ist. Wäre das möglicherweise ein besseres Konzept?

Das ist ein Trend, bei dem ich ebenfalls zwiegespalten bin. Ich muss – aber kann – beispielsweise meine Beine nicht geil finden, aber sie existieren und bringen mich an Orte. Aber von der systemischen und radikalen Ebene macht es für mich nicht so einen großen Unterschied, es bleibt eben auch nur ein Begriff.

Titelfoto: Mim Schneider/@m.i.m.s.k.i

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