Streit

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Sollte jede*r automatisch Organspender sein?

Soll, wer nicht ausdrücklich widerspricht, künftig als Organspender*in gelten? Wir haben die „Widerspruchslösung“ auf Herz und Nieren diskutiert

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Streit zum Widerspruchsrecht bei Organspendern

Nein, eine Spende muss freiwillig bleiben

sagt Christa Roth 

Seit April ist die vom Bundestag beschlossene zweite gesetzliche Änderung des Transplantationsgesetzes – die Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende (GZSO) – rechtskräftig. Krankenhäuser erhalten mehr Zeit und Geld für Transplantationen. Und bei knapp 10.000 Patienten in Deutschland steigt die Hoffnung, nicht mehr lange auf ein Spenderorgan warten zu müssen. 

Geht es nach Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), kommt dieses Jahr aber noch eine weitere Gesetzesanpassung: Ihr zufolge sollen künftig alle Bürger potenzielle Organspender sein, solange sie selbst oder ihre nächsten Angehörigen nicht widersprechen. Befürworter erhoffen sich durch diese „doppelte Widerspruchslösung“ kürzere Wartezeiten auf Organe. Kritiker dagegen sorgen sich, im Todesfall zu einem Ersatzteillager gemacht zu werden. Und das nicht zu Unrecht.

Die Kampagnen zum neuen Gesetz informieren, klären aber nicht auf

2018 wurden in Deutschland 955 Menschen postmortal Organe entnommen. Damit ist die Zahl der Spender erstmals seit Jahren gestiegen, so die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO), die jede Organspende in Deutschland koordiniert. Für die Vermittlung von Spenderorganen in einem Verbund aus acht europäischen Ländern ist dann die Stiftung Eurotransplant zuständig. 2017 kamen auf eine Million Einwohner lediglich 9,7 Organspender. Damit gehört Deutschland zu den Schlusslichtern in Europa. Spanien, wo die Widerspruchslösung gilt, ist mit 46,9 Organspendern auf eine Million Einwohner Spitzenreiter. Anders als in Deutschland, wo der Hirntod Bedingung für eine Organentnahme ist, können in Spanien auch Menschen Organe entnommen werden, deren Herz gerade erst aufgehört hat zu schlagen. Doch ein Herzstillstand ist kein sicheres Todeszeichen, und es kommt immer wieder vor, dass Menschen nach einer Reanimation wieder die Augen aufschlagen.

Bislang konnte in Deutschland nur Spender werden, wer dem Eingriff nachweislich zugestimmt hat. Es gibt jedoch kein Register, das den persönlichen Entschluss festhält. Erkennbar macht man sich zum Beispiel durch das Mitführen eines Dokuments oder durch eine Patientenverfügung. Einer Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zufolge heißen 84 Prozent der Deutschen eine Organspende prinzipiell gut. Aber nur 36 Prozent besitzen einen Organspendeausweis, aus dem ihre Position hervorgeht. 

Woher kommt diese Diskrepanz? Vernachlässigen viele einfach, sich um einen Organspendeausweis zu kümmern? Oder sind sie sich zu unsicher, um eine Entscheidung zu treffen? Die Widerspruchslösung führe dazu, „einmal im Leben“ aktiv darüber nachzudenken, sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die neue Gesetzeslage sei nur „ein Zwang, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen“, behauptet Spahn – keine Zwangsabgabe. Beide ignorieren, dass Zugang und Aneignung des dafür notwendigen medizinischen Wissens weiterhin jedem selbst überlassen bleiben. Organspende-Kampagnen informieren zwar, gehen aber längst nicht auf alle Argumente ein und bieten deshalb keine umfassende, ergebnisoffene Aufklärung.

Nur Zwangssysteme schreiben vor, wann und wie wir uns mit unserem Sterben zu beschäftigen haben

Leider scheint eine bessere gesellschaftliche Auseinandersetzung bislang nicht Teil der vorgesehenen Gesetzesanpassungen zu sein und wird – im Gegensatz zum Deutschen Ethikrat – etwa von der DSO auch nicht gefordert. Allerdings sieht die den Grund für niedrige Organspendezahlen nicht in der vermeintlich mangelnden Spendenbereitschaft. Ursächlich seien vielmehr die problematischen Abläufe in den Entnahmekliniken. Mögliche Spender zu erkennen, Meldung bei der DSO zu erstatten und alles für eine Transplantation vorzubereiten bedeutet einen Mehraufwand, den manches Krankenhaus scheut. Das bestätigen Untersuchungen der Universitäten Kiel und Jena.

Der Forderung vieler Ärzte, dieses organisatorische Defizit mit finanzieller Unterstützung durch die Politik zu beheben, um so die Zahl der gespendeten Organe erheblich zu steigern, trägt das GZSO bereits Rechnung. Wozu dann noch die Aufhebung der Zustimmungspflicht? 

Ein unterlassener Widerspruch darf nicht als Zuspruch gewertet werden. Eine Entscheidung in dieser persönlichen Frage sollte nicht getroffen werden müssen, sondern – genauso wie die Spende selbst – auf freiwilliger Basis jedes Einzelnen geschehen. So wie kein Mensch das Recht auf eine Organspende hat, so darf sich dieses auch der Staat nicht mittels Gewaltmonopol konstruieren. Vorzuschreiben, wann und auf welche Weise man sich mit dem eigenen Sterben zu beschäftigen hat, entspricht einem Zwangssystem, das auch dann abzulehnen ist, wenn andere Staaten es praktizieren. Zumindest so lange, bis eine Volksbefragung zur Widerspruchsregelung den zustimmenden Konsens der Bevölkerung anzeigt. Aber die scheint – übrigens im Gegensatz zum Hirntod-Konzept – momentan tabu.

Christa Roth arbeitet als freie Journalistin und hat mit schwer kranken Familienmitgliedern und Freunden schon viel Zeit in Krankenhäusern verbracht. Seit 2015 besitzt sie eine Patientenverfügung.

Ja, Leben retten geht über Bequemlichkeit

findet Ralf Pauli

Das beste Argument für eine Neuregelung der Organspende ist zugleich das drängendste: Etwa 9.500 schwer kranke Menschen warten derzeit in Deutschland auf mindestens ein funktionsfähiges Organ. Ob Herz, Lunge oder Niere – hierzulande werden viel zu wenig lebensrettende Organe gespendet. Im vergangenen Jahr waren es 3.113– gerade mal ein Drittel der benötigten Anzahl. Oder anders formuliert: Steigt die Zahl der Spenderinnen und Spender nicht sprunghaft an, würde es rein rechnerisch rund drei Jahre dauern, um allein die momentan Wartenden zu versorgen. Für viele Betroffene ist der Versorgungsengpass jedoch fatal: Im Schnitt sterben alle zwei Tage fünf Menschen, die auf der Warteliste für Spenderorgane stehen.

Das krasse Missverhältnis zwischen gespendeten und benötigten Organen zeigt, wie dringend der Handlungsbedarf ist. Einen ersten Schritt hat Gesundheitsminister Jens Spahn bereits gemacht, indem er den Krankenhäusern mehr Geld und mehr Fachpersonal für Organspenden zur Verfügung stellt. Nun muss ein zweiter Schritt folgen, um auch die Spendebereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zu erhöhen. Das Kuriose ist: 84 Prozent der Deutschen halten Organspende für eine gute Sache. Die tatsächliche Spenderquote spricht jedoch eine andere Sprache: Mit 11,5 Spendern pro einer Million Einwohner gehört Deutschland europaweit zu den Schlusslichtern; zum Teil sind die Nachbarn drei bis vier Mal so „spendabel“. Das hat einen einfachen Grund: die sogenannte Widerspruchslösung.

Die Lösung mit Spenderausweis klingt fair, krankt aber an Faulheit und Unentschlossenheit

In mittlerweile 21 der 28 EU-Ländergilt diese Regelung. Sie besagt: Wer nicht widerspricht, ist nach dem Tod automatisch Organspender. Anders als in den meisten europäischen Ländern sollen in Deutschland auch noch die Angehörigen befragt werden, wenn der Wille unklar ist (doppelte Widerspruchslösung). So kommt Spanien etwa auf die Spitzenquote von 46,9 Spendern auf eine Million Einwohner. In Deutschland ist die Gesetzeslage derzeit noch umgekehrt: Nur wer sich vor seinem Tod explizit mit der Organspende einverstanden erklärt hat, dem dürfen nach dem Ableben Organe oder Gewebe entnommen werden. Klingt nach einem fairen Verfahren, krankt aber an der Faulheit oder der Unentschlossenheit des Einzelnen. Anders ist kaum zu erklären, warum nicht mal die Hälfte derer, die für Organspenden sind, einen Organspenderausweis besitzt. Und das hat – überspitzt formuliert – zur Folge, dass die egoistische Bequemlichkeit über dem lebensrettenden Gemeinwohl steht.

Zudem gibt es noch ein anderes Problem: Mit der aktuellen Regelung ist keineswegs sichergestellt, dass der Wille des Verstorbenen tatsächlich befolgt wird. Finden Klinikärzte etwa keinen Organspenderausweis im Portemonnaie – oder können oder wollen die Hinterbliebenen nicht umgehend Auskunft über die Einstellung des Verstorbenen zur Organspende geben –, darf nicht operiert werden. Protokolle von Angehörigengesprächen legen jedoch nahe, wie selten der Wille des Verstorbenen tatsächlich bekannt ist. In den 326 Fällen vergangenes Jahr, in denen Hinterbliebene eine Organentnahme verweigert haben, war bei gerade mal 41 Prozent der Verstorbenen die ablehnende Haltung gegen Organspende bekannt. Bedenkt man, dass jeder Organspender theoretisch bis zu sieben Organe und dann auch noch Gewebe wie Haut, Blutgefäße oder Knochen spenden kann, tut das ganz schön weh.

Von der Widerspruchslösung in Deutschland hätten Patienten in ganz Europa etwas

Mit der Widerspruchslösung würde sich das auf einen Schlag ändern, auch wenn manche die Regelung als Zumutung begreifen. Wahr ist, dass sich jede Person, die Mitmenschen nach dem eigenen Tod keine Organe zur Verfügung stellen möchte, dann aktiv eine entsprechende Notiz zum Beispiel in einer zentralen, gesicherten Datenbankhinterlegen müsste. Dass damit aber schon das Prinzip der Freiwilligkeit verletzt wäre, wie Gegner der Widerspruchslösung gerne anführen, ist Unsinn. Die neue Regelung zwingt die Bürger ja nicht zur Organspende, nur zur aktiven Beschäftigung mit dem Thema. Und diese sollte eine Regierung schließlich einfordern können, wenn sie einem gravierenden gesellschaftlichen Missstand entgegentreten will – und auf die Anteilnahme in der Bevölkerung angewiesen ist.

Und schließlich spricht noch etwas für die Widerspruchslösung: Schon jetzt profitieren deutsche Patientinnen und Patienten davon, dass diese Regelung in anderen europäischen Ländern Standard ist. Schließlich arbeiten von Amsterdam bis Zagreb deutsche und ausländische Kliniken bei der Versorgung mit gespendeten Organen zusammen. So konnten 3.264 Organe von verstorbenen Spenderinnen und Spendern aus dem gesamten Eurotransplant-Raum in deutschen Kliniken transplantiert werden. Wer also die Widerspruchslösung befürwortet, ist nicht nur solidarisch mit seinen deutschen Mitbürgerinnen, sondern auch mit den europäischen. Und das ist dieser Tage auch schon einiges wert.

Ralf Pauli ist Bildungsredakteur bei der taz und gerne bereit, sich nach dem Tod für das Wohl anderer ausschlachten zu lassen. Solidarität stirbt nicht.

 

Collagen: Renke Brandt  

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.