Rote Wände, schwere Ledersessel, elegantes Parkett. In der Villa in Berlin-Tiergarten wohnte früher der Stummfilmstar Henny Porten. Heute ist hier eine Bar. Burhan Qurbani, 34, rote Schuhe, gelbe Socken, runde Pantobrille, sitzt am Tisch und dreht sich eine Zigarette. Nebenan baut ein Fernsehteam sein Material auf. Es ist der dritte Tag eines Interviewmarathons. „Erstaunlich hohes Interesse für einen kleinen Film“, sagt Qurbani. Es klingt ein bisschen nach höflicher Bescheidenheit.
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Eine Szene aus „Wir sind jung, wir sind stark“ von Burhan Qurbani
„Wir sind jung. Wir sind stark“, sein zweiter Spielfilm, hat eine geradezu unheimliche Aktualität bekommen angesichts von Pegida und AfD. Dabei hat er eigentlich ein zeitgeschichtliches Thema. Er handelt von den Ausschreitungen gegen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen im Jahr 1992. Zwei Jahre nach der Wiedervereinigung wütete vier Tage lang ein Mob vor dem Plattenbau, in dem Vietnamesen lebten, die einst als Vertragsarbeiter in die DDR kamen. Tausende kamen zum Glotzen und johlten, als die ersten Molotowcocktails auf die wehrlosen Heimbewohner flogen.
Man kann dem deutschen Film vieles vorwerfen, Geschichtsvergessenheit aber sicher nicht. Von den letzten Tagen des Führerbunkers bis zum Deutschen Herbst wurden auch die dunklen Kapitel ausführlich ins Licht gesetzt. Rostock-Lichtenhagen allerdings fehlt. „Gott sei Dank ist damals niemand gestorben“, sagt Burhan Qurbani. „Aber so zynisch das klingt: Deshalb gab es so lange keinen Spielfilm darüber.“ Die Tätermasse sei einfach zu undefiniert. Und das mache es so schwer, daraus eine Geschichte zu machen, die die Ereignisse nicht banalisiert. Qurbanis Film kommt ohne Helden aus. Er zeigt stattdessen: die ganze Frustration, die stumpfe Brutalität, den moralischen Kollaps, als die Hoffnungen der Nachwendezeit längst geplatzt waren. „Die meisten waren ja keine Neonazis, sondern ganz normale Jugendliche“, sagt Qurbani. „Das ist ja das Erschreckende.“
Eine Kneipe in der Neuköllner Sonnenallee. Die Wände nikotingelb, die Dielen durchgelatscht, kein Stuhl gleicht dem anderen, ein Bluessänger wehklagt aus den Boxen. Tom Lass, dunkler Kapuzenpulli, dezente Augenringe, rührt in einer Tasse Ingwertee. „Ich mache gerade den ersten Schritt, es mit der Branche zu probieren“, erzählt Lass, der gerade an einem Film für das ZDF arbeitet. Das klingt natürlich kokett für einen, der mit 31 Jahren schon seit fast 20 Jahren erfolgreich in der Filmbranche arbeitet. Er ist Schauspieler, Regisseur, Produzent, wenn es sein muss, auch Cutter, in Ausnahmefällen sogar Kameramann und Maskenbildner. Lass hat mehrere Kurz- und zwei Langfilme gedreht. Er hat diverse Preise gewonnen und gilt als Hoffnungsträger. Denn seine Filme haben etwas, das dem deutschen Film chronisch abgeht: Authentizität und Anarchie.
Trotzdem hat der Regie-Autodidakt durchaus recht, wenn er sagt, dass er mit der Branche wenig Kontakt hat. Denn seine Filme hat er bislang komplett ohne Filmförderung, ohne Fernsehsender, ohne finanzkräftige Produktionsfirma und ohne großen Verleih realisiert – also einerseits ohne den ganzen schwerfälligen, zeit- und kraftraubenden Überbau, der oft so viele Kompromisse mit sich bringt. Aber eben andererseits auch: praktisch ohne Geld.
Zum Film gehen. Seit die Bilder laufen lernten, gilt dem die Sehnsucht unzähliger junger Menschen. Nach wie vor strahlen wenige Berufsfelder mehr Glanz aus als der Filmbetrieb. Und nirgends verglühen Träume schneller als hier. Film ist ein Milliardengeschäft. Auch im vergleichsweise kleinen Filmmarkt Deutschland. Doch eine Karriere zu machen, das ist in kaum einer Branche schwieriger.
Burhan Qurbanis Lebenslauf liest sich schon fast irreal perfekt. Nach der Schule arbeitete er als Regieassistent am Staatsschauspiel Stuttgart und bei einer Filmproduktion. 2002 bewarb er sich für Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg und wurde genommen. Dazu muss man wissen: Unter den elitären Filmhochschulen hat die Filmakademie in Ludwigsburg noch mal einen besonderen Rang. Sie gilt nicht nur als beste deutsche Filmhochschule, sondern hat auch international einen klangvollen Namen.
Jährlich bewerben sich rund 150 bis 200 Leute für das Studienfach Regie. Das Auswahlverfahren ist hart. Am Ende werden nur sechs Bewerber genommen. Und auch einer der begehrten Studienplätze ist längst keine Jobgarantie. Denn jedes Jahr werden neue Absolventen auf einen Filmmarkt geschüttet, dessen Volumen eher sinkt als wächst. Man muss schon zu den Besten unter den Auserwählten zählen, um eine Chance zu haben. Pro Jahr kommen höchstens fünf von hundert potenziellen Bewerbern durch, so lauten Branchenschätzungen.
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Geht den Marsch durch die Filminstitutionen: Burhan Qurbani
Schon während seines Studiums drehte Qurbani einen Kurzfilm, der ihm einen internationalen Preis einbrachte. Und mit seinem Abschlussfilm „Shahada“ schaffte er etwas, das einigermaßen einmalig sein dürfte: Der Film, der von drei Berliner Muslimen erzählt, die zwischen den Versuchungen der Großstadt und islamischen Moralvorstellungen eingeklemmt sind, lief 2010 im Wettbewerb der Berlinale, neben Polanski, Scorsese und Winterbottom. Ein Studentenfilm auf der größtmöglichen Bühne. Sein Film war in allen Zeitungen. Die Reaktionen gingen auseinander. Von den einen wurde er zum Shootingstar erklärt, von den anderen verrissen. „Man ist wahnsinnig exponiert. Das war toll, aber irgendwie auch verstörend“, erinnert sich Qurbani. Die Berlinale war der Kickstart für die Karriere, aber auch Bürde. So einen Erfolg muss man erst mal bestätigen. Damals lebt Qurbani in einem WG-Zimmer in Neukölln. Kurz überbrückt er einen finanziellen Engpass mit Hartz IV. Dann jobbt er in einer Videothek und fängt an mit dem Drehbuch zu „Wir sind jung. Wir sind stark“.
Dass Tom Lass beim Film landete – purer Zufall. Eigentlich wollte er Programmierer werden. Aber er hatte einen Freund, dessen Mutter eine Freundin hatte, die Kostümbildnerin war. Die hat zu ihm gesagt, er solle zum Casting gehen und seine Freunde mitnehmen. Das war 1998. Lass fing an zu schauspielern. Er war in Kinokomödien zu sehen, in Fernsehfilmen, in Krimiserien. Und er war fasziniert davon, was am Set so alles passierte. „Beim Drehen hat man oft so 14-Stunden-Tage“, sagt Lass. „Da sitzen all diese talentierten Leute, und denen fallen die Augen zu, weil so lange nichts passiert.“ Lass nutzte die Pausen und fing an, das Filmteam mit Fragen zu löchern, was sie da so genau machen. Wenn er mal nicht selbst drehte, jobbte er als Fahrer, als Runner, dann als Produktionsassistent. Als er seinen ersten eigenen Film machte, war er gleich Regisseur, Koproduzent, Cutter, Produktionsleiter und Hauptdarsteller.
Dass man unabhängig, aber erfolgreich Filme machen kann, haben in den letzten Jahren einige junge Regisseure bewiesen. Etwa Nico Sommer, Axel Ranisch, aber auch Jakob Lass, der Bruder von Tom. Sein Film „Love Steaks“ wurde 2014 für den Deutschen Filmpreis nominiert. Tom Lass’ letzter Film, „Kaptn Oskar“, bekam unter anderem Applaus vom Altmeister der Regie-Anarchisten, Klaus Lemke, der das deutsche Kino längst nur als „Millionengrab“ und „subventionierte Filmfolklore“ sieht. Auf Lass’ Anrufbeantworter sagte er: „Seit Tagen läuft der vor vollem Haus bei mir im Kopf. Das ist electrifying. Das Beste, was ich je gesehen hab.“
Wie Lemkes sind auch Lass’ Filme Improvisationen. Drehbuch gab es keins. Nur einen Absatz auf einem Blatt Papier. „Aber an den haben wir uns nicht gehalten“, sagt Lass. So entstand eine skurril-melancholische Liebesgeschichte, die federleicht mit viel Situationskomik beginnt und sich dann ins Traurige wendet. Eine Charakterstudie zweier Unentschlossener, die von spontanen Dialogen lebt, die man so sonst nie im Kino hört. Hinter dieser Lust am Spielen steht ein einfacher Trick: „Wir haben gesagt: Wir drehen, solange wir Bock haben. Wenn wir müde sind, gehen wir nach Hause.“ Nach 18 Tagen war der Film abgedreht.
Burhan Qurbani schrieb zusammen mit seinem Koautor Martin Behnke drei Jahre an dem Drehbuch. Trotz Stipendien und Filmförderung mussten beide nebenher jobben. „In der Film- und TV-Landschaft lässt sich das nicht anders machen“, sagt Qurbani. Sie waren lange in Rostock, um zu verstehen, wie es damals zu dem Pogrom gegen die Vietnamesen kommen konnte. „Wir kannten über Bekannte Leute, die damals in dem Haus wohnten, mit denen haben wir gesprochen, den damaligen Verantwortlichen getroffen, sind in Jugendhäusern abgehangen, haben mit ehemaligen Nazis und vietnamesischen Opfern gesprochen.“
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Geht lieber seinen eigenen Weg: Tom Lass
Die Geschichte sei ein gordischer Knoten gewesen an menschlichem Versagen, bürokratischen Missverständnissen, politischer Unfähigkeit und Unwillen, erzählt Qurbani. Da müsse man das Drehbuch schon mal liegen lassen können. Beim Dreh standen bei manchen Szenen 500 Komparsen da. Und Qurbani, Sohn afghanischer Flüchtlinge, rief diesem Großaufmarsch der hässlichen Deutschen durchs Megafon zu: „Jetzt schreit mal alle ‚Ausländer raus‘!“ Ein Film wie „Wir sind jung. Wir sind stark“ geht nicht ohne Filmförderung. Ein langer, quälender Prozess, wie sich Qurbani erinnert. „Es ist frustrierend, wie schwierig es ist, in Deutschland einen politischen Film zu produzieren.“
Eine Frage noch. Die Pressefrau in der Bar macht Zeichen, die 30 Minuten Interviewzeit sind fast um. Gleich geht’s weiter mit „Aspekte“. Den Job in der Videothek, erzählt Qurbani, den hat er noch. Allerdings macht er im Moment Pause. Zu viele Termine gerade. Tom Lass hat nach zweieinhalb Jahren Planung und diversen Treatments das Budget für seinen nächsten Film vom Sender zugesagt bekommen. Statt 2.500 Euro wie bisher hat er nun 250.000 Euro zur Verfügung. Es ist eine Koproduktion mit dem „Kleinen Fernsehspiel“ des ZDF. Jetzt geht es los mit der Vorproduktion. Sein Team steht schon in groben Zügen. Im Sommer soll gedreht werden.
„Wir sind jung. Wir sind stark“, D 2015, Regie und Drehbuch: Burhan Qurbani, mit Jonas Nay, Joel Bachman, Saskia Rosendahl, Devid Striesow, Gro Swantje Kohlhof, Enno Trebs, Trang Le Hong u.a.; 128 Min., FSK ab 12; Kinostart: 22.1.2015 bei Zorro
„Kaptn Oskar“, D 2014, Regie, Buch und Schnitt: Tom Lass, Kamera: Jonas Schmager, mit. Tom Lass, Amelie Kiefer, Martina Schöne-Radunski
Felix Denk, Redakteur bei fluter.de, hielt den Film für eine Kunstform des 20. Jahrhunderts. Schön, aber antiquiert. Nach den Treffen mit Tom Lass und Burhan Qurbani ist er sich da nicht mehr so sicher