Weltuntergang und Wodka-O
Die neue RTL+-Serie „Euphorie“ erinnert optisch an den US-Serienhit „Euphoria“ – und ist doch viel mehr als ein Abklatsch
Worum geht’s?
„Irgendwas war grundsätzlich aus den Fugen geraten. Die Welt geht bergab. Demokratie steht auf der Kippe, und dann kam Corona.“ Mit dieser schlichten, aber gewichtigen Feststellung beginnt „Euphorie“, die deutsche Adaption der Erfolgsserie „Euphoria“. Direkt ist klar: Hier geht es nicht nur um Pubertät, Partys und Probleme; hier geht es ums Überleben in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. „Euphorie“ verlegt den existenziellen Strudel der Gen Z nach Gelsenkirchen, mitten rein in den Melting Pot der deutschen Gegenwart.
Im Mittelpunkt steht, zwischen Weltuntergang und Wodka-O, die 16-jährige Mila (Derya Akyol), die nach einem dreimonatigen Aufenthalt in der Jugendpsychiatrie zurück in ihren Alltag geworfen wird. Sie beteuert: Es war kein Suizidversuch, sondern ein Moment totaler Überforderung nach der Trennung der Eltern und einem geleakten Sexvideo. Doch Mila macht genau da weiter, wo sie vorher aufgehört hat: in einer Abwärtsspirale. Halt sucht sie bei dem mysteriösen Einzelgänger und Schauspielschüler Jannis (Eren M. Güvercin), auch um ihre verschwundene Klinik-Liebe Ali zu vergessen (Sira-Anna Faal). Es entspinnen sich zerreißende Liebesbeziehungen auf verschiedenen Ebenen.
Worum geht’s eigentlich?
„Das hier ist Deutschland“, sagt Mila. Zwischen schnellen Schnitten, Nachrichtenfragmenten, Trash-TV-Schnipseln und Klimakrisenbildern entsteht in den Folgen ein audiovisueller Overload. Dieser soll symptomatisch für das Lebensgefühl einer Generation stehen, die im Dauerstress zwischen Social Media und Systemkrise aufwächst. Psychische Krankheiten lasten wie ein Schatten über der Handlung: von Magersucht über Borderline bis hin zu Depressionen.
Schiebt Abfucks, genau wie Mila: Jannis (gespielt von Eren M. Güvercin)
Wie wird es erzählt?
„Euphorie“ inszeniert dieses kollektive Gefühl theatralisch, mit neondurchfluteter Bildsprache und bewahrt dennoch durch ehrliche Dialoge in alltäglichen Momentaufnahmen den Bezug zur Realität. Mit dieser Ästhetik erinnert die Serie an das US-amerikanische „Euphoria“, sie bleibt aber stilistisch näher am israelischen Original, auf dem diese deutsche Adaption auch basiert.
Wie unterscheidet sich „Euphorie“ von der US-Adaption?
Während das US-„Euphoria“ in erster Linie individuelle Abstürze porträtiert, stellt die deutsche Serie diese in den Kontext gesellschaftlicher Krisen – ähnlich wie im israelischen Original. Hier geht es nicht nur um Drogen, Sex und Liebesdramen, sondern um das Lebensgefühl junger Menschen in einem Land, das zwischen mentaler Dauerkrise und Eskapismus zu taumeln scheint. Milas Drogensucht entwickelt sich schleichend im Verlauf der Serie – anders als in der US-Version, in der Rue (Zendaya) schon von Beginn an tief darin gefangen ist. Rue ist von bissigem Humor, Selbstironie und einer rohen Ehrlichkeit geprägt. Mila hingegen trägt ihre Verletzlichkeit offener, fast schutzlos, und Derya Akyol spielt sie so verzweifelt, wütend und zart zugleich, dass man sie am liebsten in den Arm nehmen und aus dieser Welt ziehen würde.
Kann man die deutsche Adaption schauen?
Was „Euphorie“ besonders macht, ist die emotionale Bandbreite. Zwischen all dem Abfuck, wie Mila es nennt, gibt es noch viel mehr Raum für Zärtlichkeit, Liebe und fragile Nähe als in der US-Version. Da ist mehr Verständnis für die Schwächen aller Charaktere. Dass die Serienmacher*innen rund um Ideengeber Lennart Pohlig und das diverse Autor*innen-Team der Realität deutscher Teenager so nahekommen, liegt nicht nur an der schonungslosen Inszenierung, sondern auch am klugen Drehbuch, das Widersprüche aushält. Das Ergebnis ist eine Serie, die wehtut, aber auch unterhaltsam und warm bleibt. Eine Serie, die nicht versucht, dem amerikanischen Vorbild nachzueifern, und die sich nicht scheut, all das in einem typisch deutschen Tonfall zu erzählen: trocken und direkt.
Alle acht Folgen werden am 2. Oktober auf RTL+ veröffentlicht.
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Fotos: RTL / Zeitsprung