Ich möchte ein Eisbär sein
Attraktive haben es leichter – das gilt auch für Tiere. Nur geht es bei denen um Leben und Tod
Kleine Checkliste für alle Tiere da draußen: Hast du ein flauschiges Fell? Oder wenigstens Federn? Eine Wirbelsäule? Knopfaugen? Aber auch nicht mehr als zwei davon? Und auch nicht mehr als vier Beine? Ist irgendein Teil von dir auffällig bunt? Oder bist du vornehm schwarz-weiß gemustert?
Je mehr Fragen du mit Ja beantworten kannst, desto höher sind deine Chancen, vor dem Aussterben geschützt zu werden. Das ist nicht selbstverständlich: Es gehen gerade viele Arten verloren, und es werden wohl noch mehr werden. Wir befinden uns am Beginn des sechsten großen Massenaussterbens der Erdgeschichte, dem ersten, das der Mensch verursacht. Durch direkte Jagd, vor allem aber indirekt und umso tödlicher: durch die Zerstörung von Lebensräumen. Das ist ein riesiges Problem, denn die Ökosysteme – und damit unsere Lebensgrundlage – brauchen Artenvielfalt.
Ironischerweise ist es auch der Mensch, der die Tiere vorm Aussterben zu schützen versucht. Er geht da leider wählerisch und ein wenig unfair vor. Unter Menschen ist das „Pretty Privilege“ bewiesen, auch Halo-Effekt genannt: Wer gut aussieht, hat bei der Partnersuche Vorteile, im Job, im Sozialleben, selbst der Hausarzt nimmt einen ernster. Für sehr schöne Frauen ist die Sache ein bisschen komplizierter. Studien zeigen, dass sie schneller für oberflächlich oder beruflich inkompetent gehalten werden. Aber im großen Ganzen werden Attraktive bevorzugt.
Das gilt auch für Tiere. Eine Menge wissenschaftlicher Arbeiten setzt sich mit den Vorteilen auseinander, die manche Tierarten gegenüber anderen haben. Die werden von Forschenden oft „charismatisch“ genannt, weil ihre Erforschung beispielsweise mehr Ruhm verspricht, sie hübscher, mysteriöser oder schlichtweg sichtbarer sind.
— Eine Studie untersucht zum Beispiel, wohin die 1,12 Milliarden Euro flossen, die die EU zwischen 1992 und 2018 über sogenannte LIFE-Projekte in den Artenschutz investiert hat. Drei Viertel gingen an Vögel oder Säugetiere, mehr als 80 Millionen Euro allein an Braunbär und Wolf. Nur 13 Prozent unterstützten wirbellose Tiere wie Würmer, Insekten oder Nesseltiere. Dabei machen die über 98 Prozent aller Tierarten in Europa aus. Es wird noch schlimmer: Das meiste Geld floss nicht mal für besonders bedrohte Tiere.
— Ein Paper aus Australien stellte 2016 fest, dass sich die dortige Säugetierforschung überproportional auf die australischen Vorzeigetiere wie Kängurus, Koalas oder Wombats konzentriert. Lokale Nagetiere und Fledermäuse wurden kaum beachtet, obwohl sie fast die Hälfte der untersuchten Tierarten ausmachen.
— Gerade erst untersuchte ein Team, welche Singvögel in den USA zwischen 1965 und 2020 erforscht wurden. Es ließ dafür knapp 300 Arten auch optisch bewerten. Ergebnis: Wer bunter, kontrastreicher, fluoreszierender daherkommt, ist interessanter für die Wissenschaft. Und wer besser erforscht ist, kann besser geschützt werden.
— Eine weitere Studie stellt fest, dass Menschen es für verwerflicher halten, als „niedlich“ geltende Tiere zu töten. Eine Untersuchung aus Spanien stützt das: Laut ihr haben schon Kinder weniger Bedenken, wenn Ameisen, Motten oder Fledermäuse gequält werden als etwa Schmetterlinge oder Eichhörnchen.
— Ein eher indirektes Problem sind invasive Arten, die anderen den Lebensraum wegnehmen, aber zu beliebt sind, um vom Menschen bekämpft zu werden. Eine Studie von 2019 schaute sich unter anderem den Mönchssittich an, einen putzigen knallgrünen Vogel aus Südamerika, der mittlerweile auch in Mitteleuropa verbreitet ist. Man kann auch nach Brandenburg schauen. Dort plante das Landwirtschaftsministerium den Abschuss von 60 Sikahirschen. Die aus Asien stammenden Tiere waren aus privater Haltung entkommen und könnten einheimische Arten bedrängen. Aber nach einer Petition mit mehr als 1.000 Unterschriften wurden die Abschusspläne im Juli gestoppt.
Weil das alles schreiend unfair ist, hat der Biologe und Comedian Simon Watt 2012 die Ugly Animal Preservation Society (UAPS) gegründet. Während die wohl bekannteste Artenschutz-NGO, der WWF, einen tapsigen Panda im Logo trägt, ist das Maskottchen der UAPS ein Blobfisch. Der lebt in der Tiefsee und quillt, wenn er an die Wasseroberfläche gebracht wird, so stark auf, dass er aussieht wie ein Kloß mit Wulstlippen, riesiger Nase und rasend schlechter Laune.
Ob der Blobfisch gefährdet ist, weiß man wegen mangelnder Forschung nicht. So wie der WWF-Panda ist er vor allem ein Posterboy, um das Artensterben medial nach vorne zu bringen. All die Millionen noch existierenden Tier- und Pflanzenarten kann der Mensch ohnehin nicht gleichermaßen ins Herz schließen.
Ein zweiter Trost für Blobfisch und Kollegen: Zu gut auszusehen ist für Tiere auch gefährlich. Die schönsten Felle, die exklusivsten Schuppen, die mächtigsten Hörner und Stoßzähne locken Wilderer und Sammler, die ein Vermögen für Tiere oder Tierteile ausgeben. Die illegale Jagd, der Schmuggel und der Handel mit Wildtieren bringen manche Arten an den Rand des Aussterbens – nur dass sie spätestens dann Unterstützung kriegen.
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Titelbild: Tim Flach