Touristenmassen auf einem Gletscher

Eigentlich ganz schön hier

In Klimadebatten ist Schönheit kaum ein Thema. Ein Fehler, findet unser Autor

Von Marcel Hänggi
Thema: Natur
22. September 2025

Im Mai veröffentlichte die „New York Times“ einen Podcast aus dem irakischen Diyala, wo es seit Jahren kaum geregnet hat. Die Journalistin fährt durch die Provinz, die früher für ihren reichen Getreideanbau bekannt war, vorbei an vertrockneten Feldern und Kadavern verdursteter Kühe. Sie trifft einen Bauern. Der nicht zuerst beklagt, dass er hier nicht mehr leben könne, sondern sagt: „Es war so schön hier, all die Aprikosen- und Feigenbäume ...“ 

Von Schönheit ist selten die Rede, wenn wir über die Umweltkrisen unserer Zeit sprechen. Wenn Felder vertrocknen, Wälder brennen oder Gletscher wegbrechen, scheint die Sorge um Schönheit ein Luxusproblem. Auf den mehr als 7.000 Seiten des letzten Berichts des Weltklimarats finden sich die Wörter „beauty“ und „beautiful“ keine zehn Mal. 

Das Bundesnaturschutzgesetz schreibt den Schutz der Schönheit von Natur und Landschaft im ersten Absatz fest. In den Klimadebatten ist das weit weg. Das Argument der schönen Landschaft, die es zu erhalten gelte, wird vor allem vorgebracht, um die eigene politische Position zu untermauern. Für die einen zerstört das Windrad die Idylle, für die anderen die neue Schnellstraße. 

Was verlieren wir an Schönem, wenn sich die Erde erhitzt und die Artenvielfalt abnimmt? Ist Naturschönheit wichtig? Und was ist überhaupt schön? 

Schönheit messen 

Schön ist: das Meer. Sommerregen. Der Berg, an dem ich aufgewachsen bin, hingefläzt wie ein riesiges Tier vor Millionen Jahren. Schön sind: reife Früchte direkt vom Baum. 

Es gibt Versuche, Schönheit zu messen. Aber keine bundesweiten Studien zur Frage, wie sich die „ästhetische Qualität“ der deutschen Landschaft verändert. Eine solche Studie gibt es für die Schweiz. Die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) untersucht, wie sich die Landschaften in der Schweiz verändert haben. Sie erfassen objektive Indikatoren wie Waldfläche, Nutzungsvielfalt oder Bodenversiegelung, sie erheben aber auch subjektive Einschätzungen wie die empfundene „landschaftliche Schönheit“. Laut ihrem letzten Bericht von 2022 hat sich die Qualität der Schweizer Landschaften zuletzt in fast allen objektiven Indikatoren verschlechtert. Die Befragten schätzen die landschaftliche Schönheit ihrer Wohngemeinden aber nach wie vor als hoch bis sehr hoch ein. Dieser Befund ist nur auf den ersten Blick erstaunlich: Mit der Landschaft verändert sich auch die Norm, an der ihre Schönheit gemessen wird. 

Die WSL hat auch modelliert, wie das Land aussehen wird, wenn das Klima sich weiter erwärmt. Es ist keine schöne Lektüre: viel Grau und Braun statt Grün, viele tote Bäume statt Wäldern. Manche Gletscher werden in Zukunft zu vielen kleinen Seen. 

Umgekehrt sorgen Eingriffe, mit denen dem Klimawandel begegnet wird, dafür, dass verlorene Schönheit wiederhergestellt wird. Wenn die Landwirtschaft vielfältiger anbaut. Wenn Städte begrünt werden, um sie zu kühlen. Wenn trockengelegte Feuchtgebiete wieder vernässt werden und Flüsse mehr Platz kriegen, um Überschwemmungen vorzubeugen. Gegenden wie das Leipziger Neuseenland zeigen, wie schön kaputte Natur werden kann: Aus einer Region des Tagebaus wurde eine für Naherholung und Wassersport. 

Schön ist nicht immer gut 

Schön ist: eine Nacht im Wald, wenn die Käuze rufen. Einem Kind einen Käfer zeigen. Der Gipfel im Morgengrauen, bevor ihn eine Tausendschaft Instagram-Tagestouristen überrennt. 

Wunderschön, erzählte mir eine Bekannte, sei auch ihre Wanderung neulich gewesen, vor allem die Wiesen: gelb leuchtender Löwenzahn! Kurz darauf besuchte ich einen alten Mann in derselben Gegend. Er zeigte aus seinem Küchenfenster. „Siehst du die Wiese? Vor 50 Jahren habe ich dort prächtige Blumensträuße für meine Frau gepflückt. Heute wächst nur noch Löwenzahn.“ 

Schön ist nicht für alle dasselbe. Und schön ist nicht immer gut. Blüht Löwenzahn in Massen, gilt er als Zeichen von Überdüngung und Biodiversitätsverlust. Gefiele die Wiese meiner Bekannten auch, wenn sie das wüsste? 

Aber Schönheit liegt nicht nur im Auge der Betrachterin. Es gibt, wie Studien zeigen, Naturschönes, das einer Mehrheit gefällt. Wasserlandschaften oder offene Landschaften mit einzelnen Bäumen beispielsweise; nicht zufällig werden Stadtparks nach diesem Muster gestaltet. Aber solche kollektiven Vorlieben werden überschätzt. Was wir schön finden, hat mit Wissen zu tun (der alte Mann weiß mehr als meine Bekannte) – und mit Geschmack. 

 

Schneepiste in trockener Landschaft

Nicht so schön: Falscher Schnee statt echter Gletscher …

Foto: Elias Holzknecht

Drei Personen in einem Skilift

… und Braun statt Grün. Davon droht der Schweiz bald mehr

Foto: Elias Holzknecht

Pittoresk und instagrammable 

Über Geschmack zu sprechen ist heikel. Man riskiert, sich zu blamieren, wenn man allzu Gefälliges (Sonnenuntergänge, Sandstrände, Wasserfälle) schätzt. Man riskiert, arrogant zu wirken, wenn man über das spottet, was anderen gefällt. Die Hemmung, im Klimadiskurs von Schönheit zu sprechen, dürfte auch daher rühren. 

Gibt es richtiges und falsches Schön? Ja. Zumindest, wenn es um die Auswirkungen auf unsere Umwelt geht. Übersichtlichkeit und eine klare Ordnung sind eher schlecht. Rasenmäherroboterrasen, Steingärten und Kirschlorbeerhecken sind Biodiversitätswüsten. Wälder, in denen das Totholz liegen bleiben darf, sind ökologisch wertvoller als „aufgeräumte“ Wälder. 

Schön sind: die Mauersegler, denen ich im Frühsommer aus dem Liegestuhl zuschaue. Sonne auf kühler Haut. Fliegengesumme. 

Natur ist besonders schön, wenn wir sie mit mehreren Sinnen erfahren. Und wenn wir sie zeitlich wahrnehmen, im Werden und Vergehen. Viele Naturschönheiten sind jahreszeitliche: blühende Obstbäume, sich verfärbende Laubwälder, Schnee. 

Die Ästhetik, die Photoshop und KI geschaffen haben, weiß nichts vom Vergehen der Zeit. Die Bildbearbeitung hat es leicht gemacht, das Schöne überschön zu machen, den Himmel blauer, das Gras grüner. 

Diese Schöner-als-echt-Ästhetik wirkt zurück in die reale Welt. Tomaten beispielsweise werden nach diesem Ideal gezüchtet; fad schmeckend, aber optisch makellos. Damit sie auch im Winter zu kaufen sind, hüllt man in Südeuropa ganze Landschaften in Plastikplanen. Kaum ein Insekt findet dort Nahrung, kein Vogel singt. 

Die Tomaten-Ästhetik kann man Kitsch nennen. Ein noch gefährlicheres Wort als „Geschmack“. Wer „Kitsch“ sagt, verurteilt. Es ist wichtig, Kitsch zu benennen. Denn Kitsch hilft nicht, die Schönheit der Welt vor Umweltkrisen und Massentourismus zu bewahren. Kitsch blendet aus, was stört, und überhöht, was gefällt. Kitsch interessiert sich wenig für das Schöne, er benutzt es vor allem. Ein Sonnenuntergang ist immer schön. Das Foto eines Sonnenuntergangs ist fast immer kitschig. 

Baumarktketten, Zeitschriften und Reiseanbieter verkaufen Kitsch. Wenn Aussichten „atemberaubend“ sind und Sandstrände „traumhaft“, werden sie zum Klischee. Als im 18. Jahrhundert junge Engländer auf ihrer Grand Tour Europa bereisten, kam die Rede von „pittoresken“ Landschaften auf: das Ideal der Landschaft, die sich vom pittore, dem Künstler, zu einem Bild verwerten lässt. 

Heute sagt man nicht mehr „pittoresk“, sondern instagrammable. Wer sein Naturverständnis nur mehr an Abbildungen schult, an einer zu überästhetischen Bildern erstarrten Natur, der mag das Abbild irgendwann lieber als die echte Natur. Das Klischee schiebt sich vor die reale Welt. 

Keine Würde ohne Schönheit 

Es ist schwierig, über Schönheit zu sprechen. Fachkundige reden lieber von „Ökosystemleistung“. Sie gibt an, wie fähig eine Landschaft ist, für Nahrung, sauberes Wasser, saubere Luft oder Tourismus zu sorgen. Ökonominnen und Ökonomen beziffern diese Leistungen in Euro. Mit dem Konzept wollen sie den Wert der Natur sichtbar machen. Aber entwertet man die Natur nicht gerade, wenn man an ihr nur ihren Nutzen schätzt? 

Klar: Menschen können auch in einer leistungsfähigen, hässlichen Natur überleben. Schöne Natur mag nicht überlebensnotwendig sein. Aber das Leben ist würdevoller, wenn neben Überlebensfragen noch anderes Platz hat. 

Vielleicht brauchen wir das Schöne gerade jetzt. Um die Umweltkrisen zu überwinden, schreibt der Weltbiodiversitätsrat IPBES, müssten unterschiedliche „Weltanschauungen und Werte“ berücksichtigt werden. Diese Werte sollten auch Schönheit umfassen. 

Was das ist, kann niemand klar definieren. Was schön ist, ist nicht immer gut, und was gut ist, nicht immer schön. Soll man trotzdem über die Schönheit der Natur sprechen? 

Unbedingt! Weil es offensichtlich nicht gelingt, die Umwelt zu schützen, wenn wir nur ihren Nutzen betrachten. Und weil wir erst, wenn wir Natur ästhetisch wahrnehmen – sie sehen, hören, riechen und fühlen –, unseren Platz in Raum und Zeit finden und uns als Teil unserer Mitwelt erkennen. 

Titelbild des fluter 96 zum Thema Schönheit
Dieser Artikel ist aus dem fluter „Schönheit“.
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Titelbild: Mattia Micheli & Nicolò Panzeri