Links: Brutalistische Wohnblöcke vor blauem Himmel. Rechts: Drei junge Männer ohne Hemd sitzen auf einer Bank an einem Sportplatz

Brutal schön

In Jugoslawien sollte in solchen Betonmonstern eine besonders schöne Gesellschaft leben. Wie viel ist davon übrig? Ein Besuch in Neu-Belgrad

Text: Lucia Steinwender und Fotos: Lola Paprocka
22. September 2025

Vom Ufer der Save blickt Ljubica Slavković auf ein Betongebirge. Die Sava-Blocks sind graue, massive Wohntürme, streng rechteckig, fast militärisch aufgereiht und so hoch, dass Slavković davor winzig wirkt. Als schön würden Neu-Belgrad, ein Viertel westlich des Zentrums der serbischen Hauptstadt, wohl nur wenige bezeichnen. 

Wobei alle anderen erst mal eine Frage beantworten müssten: Was ist schöne Architektur? Gebäude, die großzügig geschnitten sind? Lichtdurchflutet und reich verziert? Die von allen genutzt werden können? Günstig gebaut sind? Oder in einer Bauweise, die sich der Klimakrise anpasst? Für Ljubica Slavković, 40, Architektin und Urbanistin, ist schöne Architektur eine, die gesellschaftliche Ziele hat. „Im Fall Neu-Belgrads war das die Schaffung von Wohnraum“, sagt Slavković. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten Jugoslawiens Städte nicht nur wiederaufgebaut werden, sondern auch Platz schaffen für eine neue Industriearbeiterschaft, die zu Millionen vom Land in die Städte abwanderte. Neu-Belgrad stand auf Sumpfgebiet, das innerhalb weniger Jahrzehnte zum Zuhause von 200.000 Menschen wurde. Beton war günstig. Und damit der Wohnungsbau schnell voranging, wurden die Bauteile in Fabriken vorgefertigt und auf den Baustellen nur mehr zusammengesetzt. „So entstanden die Wiederholung und Gleichförmigkeit, die für die Architektur der jugoslawischen Moderne so typisch sind“, sagt Slavković. 

Brutalistischer Wohnblock im Stile des Jugomodernismus

Sie zeigt auf die Gebäude vor sich. Wie kopiert reihen sich eckige Wohntürme aus hellgrauem Beton und roten Ziegeln aneinander. „Block 70“, sagt Slavković. Die 72 Wohnblocks von Neu-Belgrad sind nach dem Zeitpunkt ihrer Fertigstellung durchnummeriert.

Seine simplen geometrischen Formen hatte sich der „Jugomodernismus“, wie er hier genannt wird, vom westeuropäischen Brutalismus abgeschaut. Der kam in den 1950er-Jahren auf, geprägt von Architekten wie Le Corbusier in Frankreich oder Alison und Peter Smithson in Großbritannien. Der Begriff Brutalismus zielt – anders als oft angenommen – nicht auf schroffe Fassaden, sondern auf die französische Bezeichnung für Sichtbeton, béton brut. Baumaterialien wurden weder verkleidet noch verputzt oder bemalt. Auch Betonträger, Rohre, Lüftungsschächte oder Stützelemente blieben sichtbar. 

An dieser baulichen Transparenz orientierten sich später einige Länder, die noch nach ihrer Identität suchten. Israel, aber auch Indien, Senegal und Sudan, die eigene brutalistische Architekturelemente zum Nation Building nutzten. Und eben Jugoslawien, als es sich 1948 von der Sowjetunion abwandte – und von ihren pompösen stalinistischen Wolkenkratzern. Der junge Staat wollte eine neue sozialistische Gesellschaft. Und Gebäude bauen, die ihr entsprechen. „Architektur war in Jugoslawien ein durch und durch politisches Projekt“, sagt Slavković. Neue Städte sollten neue Menschen formen: gemeinschaftlich, aber selbstständig; gebildet, aber nicht abgehoben. Ist das gelungen? 

Ja und nein, findet Ivan Božanić. Der 39-Jährige, der an einem Belgrader Gericht arbeitet, hat fast sein ganzes Leben in den Bežanija-Blocks verbracht. „Das soziale Leben hat hier immer floriert“, sagt er. 

 

Junger Mann auf Betonbank
Hoher brutalistischer Beton-Turm mit vielen Fenstern, Klimaanlagen und einem angeschlossenen Aussichtsturm; oben ein großes Schild mit dem Wort ‚zepter"

Und wirklich: Im Innenhof hat sein Block 63 Dorfcharakter. Statt Autos fahren Rasenmäher über die Wiesen, Baumkronen werfen Schatten, ein paar Kinder spielen Basketball, zwei ältere Herren Schach. Im Block sind Lebensmittelgeschäfte untergebracht, mehrere Cafés, Zahnärzte, Friseursalons, Wettbüros, eine Fahrschule und ein Taekwondo-Club. Ein Block wie eine Stadt, ein Gebäude als Sozialmaschine

Aber nicht all seine Versprechen konnte der jugoslawische Wohnbau einlösen. Oft reichte das Geld nicht, vor allem nachdem der sozialistische Staat in den 1980er-Jahren in eine Schuldenkrise geriet und seine Ausgaben auf Anordnung internationaler Geldgeber kürzen musste. Auch im Wohnbau. In Neu-Belgrad wurden viele der geplanten Freizeiteinrichtungen, Kinos, Theater und Kulturzentren nie gebaut, erinnert sich Božanić. „Uns war oft schrecklich langweilig.“ 

Bis heute muss die Jugend Neu-Belgrads zum Feiern ins Stadtzentrum oder zu den Partyflößen an Save und Donau fahren. Eine Zeit lang wurde die ehemalige Wohnutopie Neu-Belgrad nur „großer Schlafsaal“ genannt. Das Viertel stand am Rand. „Daraus hat sich aber auch ein gewisser Stolz entwickelt“, meint Božanić. Vom Lokalpatriotismus erzählen viele Graffitis – und Rapsongs. „Mit der Crew aus dem Block bis ins Grab“, heißt es in einem Track der Neu-Belgrader Crew Fuck the Pigs. 

Brutalistisches Gebäude im Stile des Jugomodernismus

Der Stolz ist auch gewachsen, weil Neu-Belgrad als Gleichmacher funktioniert habe, sagt Božanić. „In unserem Block gab es alles, von Arbeiterinnen über Ärztinnen bis zu Ministern.“ In der Praxis wurden Sozialwohnungen zwar oft an die Eliten aus Politik und Wirtschaft vergeben. Aber anders als westliche Sozialsiedlungen wie die Pariser Banlieues sei der Massenwohnungsbau in Neu-Belgrad eben nicht nur für Geringverdienende gedacht gewesen, erklärt Ljubica Slavković. „Es gab weder Luxus- noch Substandardwohnungen, keine besonders teuren und keine billigen Viertel.“ Und nicht mal eine Miete: Eine Wohnung bezog man über seinen Arbeitgeber – und zahlte dafür vier bis zehn Prozent seines Gehalts in einen Wohnbaufonds ein. 

Das ist heute anders: Nach dem Zerfall Jugoslawiens in den 1990er-Jahren wurden fast alle Wohnungen in Neu-Belgrad privatisiert. Um die Instandhaltung der jugomodernistischen Gebäude kümmert sich kaum noch jemand. Die Fassaden bröckeln, während brutalistische Architektur international große Anerkennung erfährt. In Feeds und Blogs wird der Brutalismus gefeiert, Verlage bringen betonschwere Coffee Table Books heraus, und Modelle des Blocks 23 aus Neu-Belgrad haben es sogar in das New Yorker MoMA geschafft. 

Weil die Ressourcen schwinden, das Bauen für einen Großteil der menschengemachten Klimakrise verantwortlich ist und sich immer weniger Einheimische das Leben in der Hauptstadt leisten können, sollte sich die Abrissbirne verbieten. Aber in Belgrad gehen die Mietpreise durch die Decke und locken Investoren aus aller Welt an. Für den Bauboom müssen historische Bauten dran glauben, auch jugomodernistische Wahrzeichen sind bedroht. Dagegen regt sich Widerstand: Bürgerinitiativen wehren sich gegen „urbanistische Verbrechen“ in ihrer Nachbarschaft. Ljubica Slavković hat vor vier Jahren die „Nova planska praksa“ mitgegründet, eine zivilgesellschaftliche Organisation für mehr Mitsprache in der Stadtplanung. Es gebe keinen politischen Willen, das architektonische Erbe der Stadt zu schützen, sagt sie. „Dann muss das eben die Zivilgesellschaft erkämpfen.“

Titelbild des fluter 96 zum Thema Schönheit
Dieser Artikel ist aus dem fluter „Schönheit“.
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