„Die Schüler wissen nicht, dass Enver Şimşek und Mehmet Kubaşık liebevolle Familienväter waren“
Die Väter von Semiya Şimşek und Gamze Kubaşık wurden vom rechtsextremen NSU ermordet. In ihrem Buch „Unser Schmerz ist unsere Kraft“ erzählen sie, wie sie Verlust und Rassismus verarbeitet haben und wie ihnen ihre Freundschaft dabei half
Am Samstag, den 9. September 2000, wurde Enver Şimşek an seinem Blumenstand in Nürnberg von zwei Männern des rechtsextremen NSU mit mehreren Schüssen getötet. Am 4. April 2006 erschossen dieselben Täter Mehmet Kubaşık in seinem Kiosk in der Dortmunder Nordstadt.
fluter.de: Sie, Frau Şimşek waren 14 und Sie, Frau Kubaşık, 20 Jahre alt, als Ihre Väter ermordet wurden. Wie geht man als so junger Mensch mit diesem Trauma um?
Semiya Şimşek: Meine Mutter hat das in Depressionen gestürzt – bis heute leidet sie darunter. Als älteste Tochter musste ich in dem Moment Verantwortung für sie und meinen jüngeren Bruder, der damals zwölf war, übernehmen. Ich fühlte mich in diese Rolle gedrängt, ich hatte keine Freiheiten mehr, kein normales Teenagerleben. Wenn ich doch mal abends mit Freundinnen unterwegs war, rief meine Mutter ständig an: Wo bleibst du? Sie hatte Angst um mich. Ich selbst hatte auch Angst, ich dachte, vielleicht sind wir die Nächsten.
Gamze Kubaşık: Meine Geschwister waren damals sechs und 13 Jahre alt, ich habe die Vaterrolle übernommen. Das war schwer, aber ich bin dankbar, dass ich für sie ein Halt war. Ich selbst konnte nur schwer verarbeiten, was geschehen ist. Ich brach meine Ausbildung ab, wurde depressiv, bekam Schlafstörungen und musste viele Medikamente nehmen. Die Ereignisse um den NSU haben mir immer wieder den Boden unter den Füßen weggezogen und es verhindert, dass ich Lebenspläne mache.
Enver Şimşek an seinem Blumenstand 1998
Obwohl bis 2006 acht Menschen mit Migrationshintergrund nach ähnlichem Schema erschossen wurden, gingen die Ermittler lange nicht von einem rassistischen Tatmotiv aus, sondern suchten unter anderem nach Verbindungen in die Organisierte Kriminalität.
Semiya Şimşek: Ich habe damals viele Gerüchte gehört. Zum Beispiel, dass meine Mutter den Mord an meinem Vater mit ihren Brüdern zusammen geplant habe, damit sie seinen Blumengroßhandel für sich hat.
Gamze Kubaşık: Mein Vater wurde in der Öffentlichkeit als Krimineller dargestellt, als sei er deshalb gestorben. Ich wurde auf der Straße von Menschen verflucht, die meinen Baba nicht einmal kannten. Sie sagten, ich solle genauso verrecken wie die Kinder, die mein Vater mit Drogen vergiftet habe. Das stand so auch in den Medien. Ein Jahr lang war ich nach Vaters Tod nur auf meinem Zimmer. Ich konnte es nicht mehr ertragen, wie die Menschen hinter meinem Rücken gesprochen, wie sie die Straßenseite gewechselt haben.
Semiya Şimşek: Ich habe versucht, dich zu warnen.
Gamze Kubaşık: Das stimmt, Semiya sagte: Freundinnen werden sich von dir abwenden, Menschen werden euch auf der Straße beleidigen. Alles, was sie prophezeite, habe ich tatsächlich erlebt.
Von 2000 bis 2007 ermordete der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) aus rassistischen und fremdenfeindlichen Motiven insgesamt acht Menschen türkischer Herkunft, eine Person griechischer Herkunft sowie eine Polizistin: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Theodoros Boulgarides und Michèle Kiesewetter. Außerdem verübte die Gruppe mehrere Bombenanschläge und zahlreiche Banküberfälle. Obwohl alle Morde nach einem ähnlichen Muster stattfanden, gingen die Ermittler:innen nur oberflächlich einem rassistischen Tatmotiv nach. Der mutmaßliche Kern des NSU wurde im November 2011 aufgedeckt. Zwei der Täter, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, töteten sich nach einem missglückten Banküberfall selbst. Die dritte Täterin, Beate Zschäpe, legte in der gemeinsamen Wohnung der drei in Zwickau Feuer, um Beweismaterial zu vernichten, und stellte sich anschließend der Polizei. Am 6. Mai 2013 begann in München der Prozess gegen Zschäpe, die inzwischen inhaftiert ist. Bis heute bleibt unklar, wie viele Personen tatsächlich von der Terrorgruppe wussten und wer sie unterstützte. Die verschiedenen Expert:innenkommissionen und Untersuchungsausschüsse von Bund und Ländern, die ab 2011 eingerichtet wurden, führten zwar zu Erkenntnissen über die Terrorgruppe und ihr Netzwerk sowie zum Versagen der Sicherheitsbehörden. Die offenen Fragen bezüglich Tatmotiv, Opferauswahl, Täter:innenstruktur sowie möglicher Verwicklungen von Ermittlungsbehörden und Verfassungsschutzämtern konnten sie jedoch nicht vollständig klären.
Wie wichtig war Ihre Beziehung zueinander, um diese Zeit zu überstehen?
Semiya Şimşek: Mein Vater war im Jahr 2000 das erste Opfer des NSU, ich war lange ganz alleine mit diesem Schmerz und konnte außerhalb der Familie mit niemandem richtig darüber sprechen. Als ich Gamze 2006 nach dem Mord an ihrem Vater bei einer Gedenkfeier in Kassel kennenlernte, fühlte ich mich wie in der Zeit zurückgesetzt. Ich wusste, was sie durchmachen würde, und habe ihr angeboten, für sie da zu sein, wenn sie reden möchte. Von da an haben wir regelmäßig miteinander telefoniert. Wir haben uns beieinander aufgehoben gefühlt.
Aufgedeckt wurde der NSU im November 2011. Zwei der Täter töteten sich selbst, Beate Zschäpe stellte sich und ist mittlerweile im Gefängnis. Es wurde klar, dass sowohl bei der Suche nach den Tätern als auch bei den Ermittlungen zu den Straftaten Polizei, Verfassungsschutz und Justiz schwerwiegende Fehler gemacht haben. Welche Fragen sind für Sie bis heute ungeklärt?
Semiya Şimşek: Warum ausgerechnet unsere Väter? Nach welchen Kriterien wurden die Opfer ausgesucht? Ich bin mir außerdem sicher, dass es ganz viele Helfershelfer gab, gegen die aber nie ermittelt wurde. Vor Gericht ging es nur um das Trio. Bei der Urteilsverkündung wurde kein Wort an die Opferfamilien gerichtet. Die Familie Kubaşık war jede Woche vor Ort, obwohl sie aus Dortmund anreisen musste. Wir haben keine Gerechtigkeit und keine Aufklärung bekommen, wir können nicht damit abschließen.
Gamze Kubaşık: Der Verfassungsschutz hat Akten geschreddert, wichtige Dokumente bleiben über Jahre verschlossen. Diese fünf Jahre des Prozesses waren für mich sehr enttäuschend. Diese falschen Ermittlungen haben dazu geführt, dass die Ehre unserer Väter und unserer Familien kaputt gemacht wurde. Und wir hatten keine Möglichkeit, der Gesellschaft zu beweisen, dass es nicht so war. Ich bin damals mit großer Hoffnung in den Prozess gegangen, weil uns die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel persönlich versprochen hatte, dass wir Aufklärung bekommen. So hat es sich dann aber nicht angefühlt.
Aus dem Familienalbum: Gamze als Kind, auf dem Schoß ihrer Eltern. Nach dem Tod ihres Vaters musste sie schnell erwachsen werden
Sie machen beide schon seit 2021 politische Bildungsarbeit. Besonders Sie, Frau Kubaşık, gehen seit vielen Jahren an Schulen, um dort mit Jugendlichen über Ihre persönliche Geschichte und Rassismus zu sprechen.
Gamze Kubaşık: Einmal kam ich in eine Schule, an der es eine Ausstellung über den NSU-Komplex gab. Die Schüler hatten im Internet und durch Dokus Informationen gesammelt, allerdings vor allem über die Täter und wenig über die Opfer.
Semiya Şimşek: Am 9. September jährte sich die Ermordung meines Vaters zum 25. Mal. Viele Jugendliche waren zu dieser Zeit noch nicht mal auf der Welt. Sie haben vielleicht den Namen einer Täterin des NSU-Trios gehört, aber wer Enver Şimşek und Mehmet Kubaşık waren, dass das ganz liebevolle Familienväter waren, wissen sie nicht.
Gamze Kubaşık: Das war der Auslöser für uns zu sagen: Wir sollten ein Jugendbuch schreiben. Ich finde, Jugendliche haben ein Recht darauf zu erfahren, was hier in Deutschland passiert ist, wie es uns geht und wie Rassismus Familien zerstören kann.
Wie reagieren die Jugendlichen auf Ihre Geschichten?
Gamze Kubaşık: Die Lehrer sagen uns immer nach einem Vortrag, sie haben ihre Klasse noch nie so leise erlebt. Viele stellen ganz persönliche Fragen: Was wir nach den Morden gemacht haben, ob wir unser Leben weiterführen konnten? Erst vor kurzem waren wir an einer Gesamtschule. Einige Schüler wurden sehr emotional, weil sie verstanden haben: Es hätte auch mich und meinen Vater treffen können. Nach den Veranstaltungen suchen wir dann das Gespräch mit einzelnen Schülerinnen und Schülern und sagen ihnen, dass sie ihre Ängste nicht mit sich allein herumtragen, sondern sich Hilfe holen sollen, zum Beispiel bei Vertrauenslehrern oder Sozialarbeitern. Und wir geben immer den Tipp, sich zu verbünden, sich in Gruppen und Bündnissen gegen rechts zu engagieren, um etwas gegen das Gefühl der Ohnmacht zu tun.
Was hätte Ihnen geholfen, den Verlust aufzufangen?
Semiya Şimşek: Zur Wahrheit gehört, dass wir mit diesem Schmerz alleingelassen wurden. Es gab nie die Anlaufstellen, die wir damals gebraucht hätten, und in den Medien wurde unser Leid nicht richtig dargestellt. Ich habe aber das Gefühl, dass mit den Opfern von Hanau in den Medien sensibler umgegangen wurde. Das ist eine positive Entwicklung, dass es ein größeres Verständnis für Rassismus in unserer Gesellschaft gibt.
Das Jugendsachbuch „Unser Schmerz ist unsere Kraft“ ist im Verlag Fischer Sauerländer erschienen.
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