Boss Witch
Sie sind, was Frauen nicht sein sollen: hässlich, unabhängig, mächtig. Weltweit entdecken Aktivistinnen die Hexe deshalb als Protestsymbol
„Take back the night“, steht auf einem Plakat in Berlin-Kreuzberg. Seit Jahren treffen sich am Abend des 30. April ein paar Tausend Demonstrantinnen, um sich in der Walpurgisnacht zu verbünden – unter anderem gegen sexualisierte und häusliche Gewalt, für bezahlte Care-Arbeit und mehr Frauenhausplätze. Es geht rau zu, die Demos gelten als radikal.
In Frankreich sorgte ab 2017 die militant-feministische Gruppe „Witch Bloc Paname“ für Trubel. In schwarzen Gewändern, mit spitzen Hüten und radikalen Parolen („Macron in den Kessel“) demonstrierten sie etwa gegen eine Reform des Arbeitsrechts, die den Arbeitgebern Kündigungen erleichtern und den Einfluss von Gewerkschaften beschränken sollte. In weiteren französischen Städten gründeten sich nach ihrem Vorbild Frauengruppen, die in Hexenkostümen demonstrierten.
Skatende Hexen gegen das Patriarchat
Durch New York rollen die Brujas, ein Skaterinnenkollektiv (Foto oben). Sie verkleiden sich nicht, berufen sich aber auf Spiritualismus, alternative Heilmethoden und das Prinzip der Schwesternschaft. Mit ihrem Streetwearlabel, Workshops und Partys stellen sie sich gegen Kapitalismus, Gentrifizierung und das Patriarchat: Der Name Brujas – Spanisch für Hexen – ist von einem älteren Video geliehen, in dem Frauen nachstellen, wie sie Männer von ihren Skateboards stoßen.
Die Hexen sind zurück. Diesmal nicht auf Besen, sondern als Protestsymbol auf Demos und „WitchTok“, in Magazinen und Büchern. Das ist kein Zufall: Zwischen der Geschichte der Hexenverfolgungen und den Kämpfen heutiger Feministinnen gibt es viele Verbindungen.
Ein kurzer Blick in die Geschichte: Erzählungen von Frauen mit überirdischen und zerstörerischen Kräften gibt es seit Urzeiten. Die Jagd auf sogenannte Hexen begann aber nicht, wie oft vermutet, im dunklen Mittelalter, sondern im Übergang zur frühen Neuzeit. Ab dem späten 14. Jahrhundert wurden vor allem Angehörige neuer Glaubensgemeinschaften dämonisiert. Ihren Höhepunkt erreichten die Hexenprozesse im 16. und 17. Jahrhundert. Einer Epoche des Umbruchs, in der die Wissenschaft und der aufkommende Protestantismus die westliche Welt neu ordneten. Kriege, religiöse Konflikte und Ernteausfälle sorgten in Europa für Angst. Die ließ sich mit Sündenböcken besser ertragen. Gejagt und hingerichtet wurden Männer, Kinder, vor allem aber alte und alleinstehende Frauen. Wie viele Menschen ermordet wurden, ist unklar. Laut Schätzungen waren es bis zu 100.000, etwa 80 Prozent Frauen. Die Hexenverfolgung war die größte Massentötung in der europäischen Geschichte, die nicht durch einen Krieg verursacht wurde.
Die Abwertung von Frauen, die nicht die gesellschaftlichen Normen erfüllen, hält an. Etwa wenn sie keine Kinder oder Partner haben, älter, nicht normschön oder sexuell freizügig sind. Der heutige US-Vizepräsident JD Vance schimpfte im Wahlkampf auf die „childless cat lady“ Kamala Harris von den Demokraten, ihre Vorgängerin Hillary Clinton beschimpften Kritiker 2016 direkt als „Hexe“.
Die Katze ist ein typisches Accessoire von Hexen, die uns in Märchen als bösartige alte Schachteln mit Warze und Buckel begegnen – als krasser Gegenentwurf also zum Archetyp der unschuldigen, mädchenhaften, leicht kontrollierbaren Frau. Oder sie tauchen als verführerische Femmes fatales auf, die ihr wahres Wesen erst zeigen, wenn sie den Helden der Geschichte um den Finger gewickelt haben. Beide Figuren vereint die Macht, mit der sie patriarchale Strukturen infrage stellen, ganz im Gegensatz zu anderen weiblichen Figuren wie der Mutter oder Jungfrau.
Hexenverfolgungen gibt es bis heute
Die Hexenverfolgungen sind längst nicht überall vorbei: In Ghana, Tansania, Indien, Papua-Neuguinea und mehr als 40 weiteren Ländern werden Frauen der Hexerei beschuldigt, vertrieben und ermordet. Sicher sind unabhängige Frauen auch in westlichen Ländern nicht, wie die weitverbreiteten Morde an Frauen zeigen, die ihren Partner oder ihre Familie verlassen wollen.
Die Geschichte der Hexe als moderne Protestfigur begann 1968. In New York brüllte an Halloween eine Gruppe in Hexenkostümen auf der Wall Street gegen Kapitalismus und Patriarchat an. Sie nannten sich W.I.T.C.H. (Women’s International Terrorist Conspiracy from Hell). Überall in den USA und sogar in Japan entstanden Ableger. Die sorgten mit Guerillaaktionen an Universitäten und auf Hochzeitsmessen für Aufruhr, wo sie feministische Flugblätter verteilten oder weiße Mäuse freiließen. Sie verhexten öffentlich US-Präsident Nixon und störten Senatsanhörungen, indem sie Redner mit Antibabypillen bewarfen. In Frankreich erschien bis 1982 die Zeitschrift „Sorcières“ (Französisch für „Hexen“), in der Intellektuelle wie Marguerite Duras oder Julia Kristeva feministische Debatten führten. Und auch in Deutschland kam die Hexe in den 1970er-Jahren zurück, besonders in queeren Kreisen: In der 1975 gegründeten Kreuzberger Kneipe „Blocksberg“ trafen sich Lesben zum politischen Austausch.
Und heute? Ist wieder eine Zeit der Umbrüche, der Kriege, globalen Krisen und des Rechtsrucks. Da verwundert es kaum, dass die Hexe als feministische Figur wiederentdeckt wird. Ob in Paris, New York oder Berlin – überall geht es dabei auch um die Aneignung des Wortes. Aus einem Schimpfwort wird eine kraftvolle Selbstbezeichnung. Witches sind die neuen Bitches.
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Titelbild: Edwin J. Torres/The New York Times/laif