Thema – Flucht

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Die Toten im Wald

Die Grenze zwischen Belarus und Polen ist Schauplatz einer neuen Flüchtlingstragödie. Durch den Białowieża-Wald versuchen Menschen in die EU zu flüchten. Was sich in der Zone genau abspielt, bleibt der Öffentlichkeit verborgen

Belarus, Polen, Flucht

Was, wenn es noch kälter wird? Der Winter macht Marianna Wartecka am meisten Sorgen. Denn schon jetzt, Mitte Oktober, sinken in manchen Nächten die Temperaturen unter null, hier, an der polnisch-belarussischen Grenze. Und nicht alle Menschen, die im Grenzgebiet festsitzen, gestrandet zwischen dem Grenzschutz der beiden Staaten, sind darauf vorbereitet, haben Schlafsäcke oder Zelte, sagt Wartecka. Geschweige denn genug zu essen oder zu trinken.

Der Białowieża-Wald an der Grenze zwischen Polen und Belarus ist einer der letzten Urwälder des Kontinents und der Schauplatz, an dem dieser Tage das neueste Kapitel der europäischen Flüchtlingstragödie geschrieben wird. Seit dem Sommer 2021 haben immer wieder Menschen versucht, über die belarussische Grenze in die EU zu kommen. Eingekesselt zwischen belarussischen Sicherheitskräften auf der einen und den polnischen Sicherheitskräften auf der anderen Seite, sind seit August an dieser Grenze mindestens fünf Menschen ums Leben gekommen.

Polen hat den Ausnahmezustand über das Grenzgebiet verhängt – jetzt haben NGOs und Journalist:innen keinen Zugang mehr

Es ist eine Tragödie, die sich immer mehr fernab der Öffentlichkeit abspielt. Am 2. September hat die polnische Regierung über das gesamte Grenzgebiet zu Belarus den Ausnahmezustand verhängt, seither haben die meisten Hilfsorganisationen und Journalist:innen keinen Zugang mehr zur gut 400 Kilometer langen Grenze zu Belarus, auf belarussischer Seite sind ohnehin kaum noch unabhängige Berichte möglich. „Wie viele Menschen wirklich schon gestorben sind, wissen wir nicht“, sagt Wartecka von der polnischen Hilfsorganisation „Fundacja Ocalenie“ (dt.: Stiftung für Rettung). Wartecka und Mitarbeiter:innen ihrer NGO waren seit August immer wieder an der Grenze zu Belarus, um Geflüchteten zu helfen.

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Sicherheitskräfte patrouillieren auf beiden Seiten des Waldes: hier die polnischen Polizisten

„Der Wald war voller Körper“, haben polnische Medien unlängst Geflohene zitiert, die es Ende September aus der Sperrzone hinausgeschafft hatten. Der Wald wird immer mehr zur Blackbox, aus der wenig nach außen dringt. Und das vor dem Hintergrund, dass sich die Lage an der Grenze offenbar immer weiter zuspitzt: Im Monat August haben die polnischen Behörden fast 4.000 versuchte Grenzübertritte gezählt, im September schon mehr als 6.000.

Druck aus Belarus: Ist die Fluchtroute Lukaschenkos Rache für die EU-Sanktionen? 

Es entsteht eine neue Fluchtroute, begünstigt von den Maßnahmen des belarussischen Diktators Alexander Lukaschenko. In den sozialen Medien kursieren Videos, die zeigen, wie vermeintlich belarussische Grenzbeamte Menschengruppen über die östliche EU-Außengrenze nach Polen drängen. Belarus ist seit dem Vorjahr im Ausnahmezustand: Nach den – laut unabhängigen Beobachtern und der Opposition – manipulierten Präsidentschaftswahlen entzündeten sich im August 2020 Massenproteste, die Lukaschenko mit aller Härte niederschlagen ließ. Die EU reagierte mit Sanktionen, Lukaschenko ist inzwischen international weitgehend isoliert. Dass der Diktator Migrant:innen und Flüchtlinge zur EU-Außengrenze durchlässt, sehen EU-Politiker, wie der polnische Premier Morawiecki, als Rache für die EU-Sanktionen, von einer „hybriden Attacke“ auf die EU sprach zuletzt auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel bei ihrem Polen-Besuch. Ein Vorwurf, den Lukaschenko erst gar nicht bestreitet: „Wir werden niemanden aufhalten“, sagte er im Juli bei einer Regierungssitzung, wenn Menschen aus Kriegsgebieten in das „warme und bequeme Europa“ aufbrechen wollen. Ähnlich hatte er sich bereits im Mai direkt nach der Verhängung neuer EU-Sanktionen geäußert: „Wir haben bisher Migranten und Drogen gestoppt“, sagte er, „jetzt werdet ihr sie selber einfangen müssen.“

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Schon Mitte Oktober gehen die Temperaturen nachts unter Null. Diese Männer sind warm eingepackt. Wenn der Winter einbricht, wird das nicht mehr reichen

Belarus ist die eine Seite dieser Krise, Polen die andere. Polen hindert Geflüchtete laut Menschenrechtsorganisationen an der Einreise über die Grenze und setzt dabei auch Tränengas ein. Das Land verwehre den Geflüchteten, so der Vorwurf, trotz einer Aufforderung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte teils humanitäre Hilfe. Sogenannte „Pushbacks“ habe Amnesty International über Satellitenbilder anhand einer Gruppe von 32 afghanischen Flüchtlingen dokumentiert. Eine fluter-Anfrage an die polnischen Behörden zu diesen Vorwürfen blieb unbeantwortet.

Den Preis zahlen die Geflüchteten zwischen der „letzten Diktatur Europas“ und dem EU-Mitgliedsland Polen, dessen rechtskonservative PiS-Regierung für ihre besonders harte Linie in Migrationsfragen bekannt ist. Dabei entsteht ein humanitäres Niemandsland, mitten in Europa.

Manche Flüchtende haben schon mehrere Grenzübertritte hinter sich, sie müssen vor Erschöpfung ins Krankenhaus

Auf der polnischen Seite können die Hilfsorganisationen nur noch außerhalb der Sperrzone patrouillieren, um zumindest jenen Menschen zu helfen, die es aus der drei Kilometer breiten Sperrzone herausschaffen, sagt die Aktivistin Wartecka. Wie einer kurdischen Familie mit vier Kindern, das jüngste von ihnen zwei Jahre alt, die Wartecka bei ihrer Arbeit traf. „Wir gaben ihnen warmen Tee, Essen und Schlafsäcke“, sagt sie. Nach 45 Minuten kam die Polizei, lud die Familie in einen Bus und fuhr zurück in die Sperrzone, daran hindern konnte sie die Hilfsorganisation nicht. Wartecka konnte beobachten, wie dieser Polizeibus später leer wieder zurückkam: „Wir können also sicher sein, dass diese Familie einfach im Wald ausgesetzt wurde.“ Manche Menschen hätten schon mehrere Grenzübertritte hinter sich und seien so am Ende ihrer Kräfte, dass sie in ein Krankenhaus eingeliefert werden müssen, sagt Wartecka.

Belarus, Polen, Flucht
Wer das im Wald findet, kann noch von Glück sprechen: Decken und andere Hilfsgüter

Es ist eine Krise, die inzwischen auch Deutschland erreicht hat. Laut „Bild am Sonntag“ ermitteln die deutschen Behörden gegen den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko. Der Vorwurf: Schlepperei. Es gebe Hinweise, dass Menschen aus dem Irak, Syrien oder anderen Ländern mit Studentenvisa eingeflogen und vom Minsker Flughafen direkt an die polnische EU-Außengrenze gebracht worden seien. Die Bundespolizei spricht von einem „Brennpunkt“ an der polnisch-belarussischen Grenze. Dieses Jahr kamen bereits mehr als 5.000 Menschen unerlaubt über die sogenannte Belarus-Route nach Deutschland – wobei es bis Ende Juli nur 26 waren. Angela Merkel drohte Lukaschenko am 21. Oktober zum Auftakt des EU-Gipfels in Brüssel mit weiteren Wirtschaftssanktionen und warf ihm staatlichen Menschenhandel vor.

Und die EU? In der ersten Oktoberwoche besuchte eine Delegation aus dem zuständigen EU-Kommissariat für Inneres Polen. „Der Besuch ermöglicht es uns, gemeinsam mit den polnischen Behörden eine strategische Einschätzung über die Bedürfnisse vor Ort zu treffen und rechtliche Aspekte zu diskutieren“, so ein Sprecher der EU-Kommission zu fluter. Es sei wichtig, „sowohl die Grenzen als auch die Menschenrechte zu schützen“, sagte die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, nach einem Treffen mit dem polnischen Innenminister Mariusz Kamiński. EU-Kommissarin Ursula von der Leyen kritisierte das Vorgehen Lukaschenkos beim EU-Gipfel in Brüssel scharf. Die Staats- und Regierungschef:innen suchen derzeit nach dem richtigen Umgang mit Belarus und wollen sich über das weitere Vorgehen beraten.

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