Über wenige Staatsmänner wurde in den vergangenen Jahren so gerätselt wie über den russischen Präsidenten. Etwa, was Wladimir Putin zu seiner aggressiven Außenpolitik treibt? War die Besetzung der Krim dem Phantomschmerz geschuldet, den die Auflösung des riesigen Sowjetreiches nach sich zog? Geht es bei dem Bombardement in Syrien um Einflusssphären im Nahen Osten? Sind die russischen Minderheiten in den baltischen Republiken für ihn eine Art „fünfte Kolonne“, die sich mit der entsprechenden Propaganda nutzen lässt, um einen Vorwand zum Einmarsch zu haben?

Der englische Journalist und Außenpolitikexperte Tim Marshall fügt den kursierenden Deutungsansätzen ein paar Fakten hinzu, die nüchtern und erhellend zugleich sind. Indem er die Leser einlädt, mit ihm gemeinsam auf die Landkarten zu schauen, die geografischen Gegebenheiten zu studieren, die Flüsse, die Meere und die Berge, macht er den Blick frei für politische Kontinuitäten und deren unverrückbare Parameter.

Im Fall von Russland kommt Marshall, der unter anderem für die BBC aus mehr als 30 Ländern berichtete, zu der Diagnose, dass es sich zwar um das größte Land der Erde handelt, allerdings ohne einen einzigen Hafen, der das ganze Jahr über eisfrei wäre. Was natürlich für den Handel als auch für die Marine ein riesiger Nachteil ist, der durch die Annexion der Krim und der dortigen großen Hafenstadt Sewastopol am Schwarzen Meer abgemildert wurde.

Was Russland fehlt, ist eine natürlich Barriere

Zwar ist Russland groß, zwischen seiner Hauptstadt Moskau und dem Atlantik liegt allerdings keine natürliche Barriere, die sie vor Invasoren schützen könnte. Und tatsächlich kamen über die nordeuropäische Tiefebene in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder kriegerische Horden – von den Schweden über die Franzosen bis zu den Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Zwar scheint diese Gefahr heute nicht mehr zu bestehen, aber die Geografie und deren Nachteile sind fest im russischen Denken verankert.

Tim Marshall zeigt, wie die Topografie in der Geschichte der Menschheit mal geschickt genutzt, dann wieder schicksalhaft ignoriert wurde. Etwa wenn Kolonialbeamte in ihren Kartenzimmern mit dem Lineal neue Grenzen zogen, ohne Rücksicht auf Gebirge, Flussverläufe oder ethnische Zugehörigkeiten Länder und Einflusssphären schufen und so die Saat für spätere Konflikte legten.

Russland, China, USA, Westeuropa, Afrika, Naher Osten, Indien und Pakistan, Korea und Japan, Lateinamerika, die Arktis: Zehn Kapitel hat das Buch „Die Macht der Geographie“, jedem ist eine Karte vorangestellt, und im Ganzen ergibt das eine sehr lehrreiche Vermessung der Welt:

Warum hat es nie einen größeren Krieg zwischen Indien und China gegeben, obwohl die Länder seit ewigen Zeiten verfeindet sind? Weil zwischen ihnen der unüberwindbare Himalaya liegt.

Warum wird sich an der Besetzung Tibets wenig ändern, auch wenn noch so viele Hollywood-Schauspieler an der Seite des Dalai-Lama dagegen protestieren? Weil in Tibet gleich drei der wichtigsten Flüsse Chinas entspringen.

Warum bekommt Chile kein Gas von Bolivien? Weil Bolivien von Chile ein kleines Stück Küste möchte, ohne das es das limitierte Land bleibt, das es ist.

Warum war der Aufstieg der USA in so kurzer Zeit möglich? Weil der nordamerikanische Subkontinent mit fruchtbaren Flächen, gut schiffbaren Flüssen und zwei Ozeanen gesegnet ist.

Warum lebt Südkorea in ständiger Angst vor einem Angriff? Weil die Hauptstadt Seoul quasi in Schussweite der nordkoreanischen Grenze liegt.

Warum hat England um die vor Argentinien gelegenen Falklandinseln so kompromisslos Krieg geführt? Weil die Inseln auf einem Festlandsockel ruhen, in dem große Ölvorkommen vermutet werden.

Warum schlagen die sieben größten brasilianischen Häfen zusammen weniger Waren um als der Hafen von New Orleans? Weil die malerischen Dschungelfelsen in Rio zwar toll aussehen, aber Teil eines sogenannten Steinabbruchs sind, der entlang der brasilianischen Küste den Weitertransport der Waren ins Landesinnere erschwert.

So könnte man nach der Lektüre des Buches stundenlang weiterschlaumeiern. Also: Buch lesen, dann entweder bei Günther Jauch bewerben oder den Erdkundelehrer nerven.

Tim Marshall: „Die Macht der Geographie. Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt“. Aus dem Englischen von Birgit Brandau. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2016, 22,90 Euro