Herr Höffe, wir hätten von Ihnen gern einen Schnellkurs „Moral für Nicht- Philosophen“. Was ist Moral?

Ein Fremdwort. Es kommt von dem lateinischen Wort „mores“ und heißt übersetzt „Sitten“ und „Gebräuche“. Die Moral beschäftigt sich mit Grundannahmen im Verhalten der Menschen zu Mitmenschen und zur Natur und ist keinesfalls auf Fragen der Sexualität beschränkt. In dem so genannten kritischen Sinn beschreibt der Begriff Moral, wie etwas vernünftigerweise gilt oder gelten soll. Der positive Begriff Moral dagegen beschreibt, welche Sitten ein einzelner Mensch oder eine Gesellschaft befolgt.

Erleichtert die Moral das Leben?

In vielen Fällen schon. Der antike Moralphilosoph Platon hat im Gespräch mit seinem Freund Sokrates gesagt:Dem Gerechten – also dem rechtschaffenen oder, wie wir heute sagen: dem moralischen Menschen – geht es viel besser als dem Ungerechten.Weil er von den Menschen geachtet wird, an denen ihm etwas liegt, eben weil er sich selber achten kann.

Kann man Moral lernen?

Sicherlich. Und zwar jeder Mensch. Zum Beispiel kann man Rechtschaffenheit oder Rücksichtnahme lernen. Aristoteles, neben Kant einer der größten Moralphilosophen, legt sehr viel Wert darauf, dass man Moral lernen kann und lernen muss.

Und wie genau lernt man Moral?

Durch Einüben, Gewöhnung. Indem man für die Dinge, die man richtig tut, gelobt und für die falschen getadelt wird. Und vielleicht empfindet man sogar Reue für die falschen. Aristoteles sagt: Gerecht wird man durch gerechtes Handeln, tapfer durch tapferes Handeln. Das heißt: Eine moralische Einstellung bekommt man durchs Einüben.

Der Mensch ist also nicht von Geburt an moralisch?

Kinder sind ziemlich früh und ziemlich sicher moralisch. In der Pubertät beginnen sie dann, manche Moral in Frage zu stellen. Und als Erwachsene denken sich die Menschen schließlich Entschuldigungen aus, warum sie unter den gegebenen Umständen einmal nicht moralisch handeln.Aber angeboren ist die Moral nicht. Moral hat etwas mit Intelligenz zu tun.

Schließt Dummheit dann moralisches Handeln aus?

Dummheit ist vieldeutig. Jemand kann grundehrlich sein und manchmal wird man sagen: Das war aber dumm, wie ehrlich der war.Wenn man aber mit Dummheit meint, dass jemandem jede Art von kognitiven Fähigkeiten abgeht, also wenn jemand intellektuell schwerstbehindert ist, dann wird es schwierig, von Moral zu sprechen.

Hat Moral mit Bildung zu tun?

Wenn Bildung heißt, historische Daten und naturwissenschaftliche Gesetze zu kennen, dann nicht. Wenn Bildung aber heißt, sich in der Welt zurechtzufinden und Beurteilungsgesichtspunkte für ein gutes Leben zu haben, dann schon. Bildung schließt die Möglichkeit ein, sich selbst zu ändern. Das ist eine gute Voraussetzung, um moralisch zu handeln.

Das klingt, als ob Lebenserfahrung moralischer macht?

Ja und nein. Lebenserfahrung verleitet dazu, dass man glaubt, gute Gründe zu haben, um sein unmoralisches Handeln zu entschuldigen. Die Lebenserfahrung kann aber auch zeigen, dass es sich mit einem schlechten Gewissen und der Missachtung der Mitmenschen nicht gut lebt. Gleichzeitig erfährt man im Laufe des Lebens, dass man selbst – genau wie jeder andere Mensch auch – schwache Momente hat.Deshalb wird man ein bisschen nachsichtiger, mit anderen und sich selbst.

Wird man weniger streng mit sich?

Einerseits weniger streng, andererseits noch strenger. Man schwächt nicht die Forderungen ab, die man an sich stellt, denn Moral lässt sich nicht abschwächen. Aber man weiß mit der Zeit, dass man fehlbar und verführbar ist. Darüber sollte man Scham empfinden, einen neuen Anlauf unternehmen und sagen: Das nächste Mal mache ich es besser.

Wer ist in einer Gesellschaft für die Moral zuständig?

In unserer demokratischen Gesellschaft: jeder mündige Bürger. Es gibt niemanden, der ein Privileg hat, für die Moral zuständig zu sein. Natürlich gibt es Institutionen wie die Kirche, die öfters nach der Moral gefragt werden, weil sie durch ihre Tradition eine gewisse Kompetenz mitbringen. Auch von Schulen und Eltern erwartet man, dass sie für die Moral zuständig sind. Die Eltern müssen gar nicht besonders viel von Moral verstehen, ohnehin sind sie genauso gut, schlecht und fehlbar wie andere auch.Aber wer Menschen in die Welt setzt, hilfsbedürftige und zunächst völlig unsichere Wesen, trägt dafür Verantwortung, dass diese Kinder nach und nach das lernen,was ein Mensch lernen soll.

Und das wäre?

Sein Leben eigenverantwortlich zu führen.

Muss man auf Grund von gesellschaftlichen Entwicklungen alle paar Jahrzehnte neu über Moral reden?

Man muss dauernd über Moral reden. Weil sich ständig etwas ändert, oder? Einen Grund habe ich schon genannt: Der Mensch findet immer wieder Ausflüchte, nicht moralisch zu handeln. Daran ist auch die Intelligenz schuld. Den Grundgedanken von Moral kann man vereinfacht als goldene Regel formulieren:Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Diesen Gedanken finden wir in allen Kulturen seit vielen Jahrtausenden. Man braucht keine neue Moral, nur weil sich die Anwendungsbedingungen ändern.

Welches Problem für die Moral bringt die Globalisierung mit sich?

Da fallen einem erst einmal wirtschaftliche Fragen ein. Aber wirtschaftliche Fragen hat man sich schon immer gestellt. Es kann zum Beispiel sein, dass mein Nachbar bettelarm ist und ich weiß das. Seine Mutter liegt im Sterben, die Kinder haben nichts zum Anziehen und bekommen keine gute Schulausbildung. Durch die Globalisierung stellt sich genau dieses Problem dar, nur in einer ganz anderen Größenordnung.Es klingt zwar ganz gut zu sagen, im Zeitalter der Globalisierung brauchen wir eine neue Moral. Aber ich als Philosoph erlaube mir zu sagen:Wir brauchen die gleiche alte Moral in ihrer ganzen Strenge und Anerkennung.

Und wie sieht das konkret aus?

Der Philosoph tut sich da leicht: Er beruft sich nur auf die allgemeine menschliche Vernunft, nicht auf eine besondere Tradition oder Religion.Wenn man heute im Zusammenhang mit Globalisierung über Moral spricht, braucht man Werte, die von allen Menschen aller Kulturen anerkannt werden.Keine Kultur darf sich einbilden, sie wisse etwas besser als die anderen und müsse die anderen Kulturen belehren.

Erlaubt Armut unmoralisches Handeln?

Ein Kölner Kardinal hat den hungernden Menschen nach dem Krieg erlaubt, Kohle, Kartoffeln und Wasser zu nehmen,auch wenn es ihnen nicht gehört.Das ist eine extreme Situation. Kurz vor dem Verhungern sein – das ist nicht das,was wir heute in den westlichen Ländern unter Armut verstehen.Armut bedeutet hier, dass jemand beträchtlich weniger als der Durchschnitt hat. Dieses Weniger-Haben reicht als Argument nicht aus, um unmoralisches Handeln zu erlauben. Die Moral verlangt vielmehr, dass sich diejenigen um diese Armen kümmern, denen es besser geht.

Kann man aus Mitleid moralisch handeln?

Ohne Zweifel. Mitleid ist eine der wichtigsten Antriebskräfte, moralisch zu handeln. Denken Sie an die Geschichte vom barmherzigen Samariter: Der Samariter trifft auf einen Menschen, dem es, von Räubern ausgeplündert, schlecht geht. Der Samariter denkt: Das ist auch ein Mensch, dem muss ich helfen. Er bringt ihn in die nächste Herberge und gibt dem Wirt Geld, damit er sich um den Kranken kümmert. Interessant ist dabei, dass er nicht all seine Geschäfte unterbricht und Krankenpfleger wird. Er hat die Hilfe auf den Weg gebracht und das ist das
Wichtigste.

Welche Antriebskräfte für moralisches Handeln gibt es noch?

Zu den stärksten gehört sicher die Nächstenliebe. Lassen Sie mich kurz etwas erklären: Es gibt zwei Gebiete der Moral. Einmal die Rechtsmoral. Dazu gehört: dass man nicht stiehlt, dass man niemanden umbringt, dass man davon ausgeht,dass alle Menschen gleich sind. Und dass man unvoreingenommen auf den anderen zugeht. Das zweite Gebiet der Moral geht über das Geschuldete hinaus. Sie heißt Tugendmoral oder verdienstliche Moral. Mitleid gehört zur verdienstlichen Moral. Der Unterschied wird klar, wenn man sich über die Folgen eines Verstoßes Gedanken macht:Verstößt jemand gegen die verdienstliche Moral, ist man enttäuscht, verstößt jemand gegen die Rechtsmoral, ist man empört.

Handle ich moralisch, wenn ich nur meine eigenen Interessen verfolge?

Die Moral verlangt, seine Interessen nicht mit allen Mitteln und Wegen zu verfolgen, oder die eigenen Interessen rücksichtslos durchzusetzen. Jeder darf versuchen, Karriere zu machen oder reich zu werden, aber eben nicht mit unmoralischen Mitteln. Nur das sagt erst mal die Moral. Aber wenn man sie genauer betrachtet, ist es natürlich noch ein bisschen schwieriger: Platon und Aristoteles haben das glückliche Leben als Ziel des menschlichen Handelns bezeichnet.Sie meinen damit ein gelungenes Leben.Das schließt zum Beispiel Freigebigkeit ein.Oder Besonnenheit. Oder Zivilcourage. Und vor allem Gerechtigkeit.

Schließen sich Individualität und Moral dann aus?

Keineswegs. Empirische Untersuchungen zeigen, dass viele Menschen,die in einem hohen Maß Wert auf Eigenheiten und Individualität legen,besonders moralisch und hilfsbereit sind. Ein gutes Beispiel sind Gründer von kulturellen und sozialen Stiftungen.Vielleicht leben sie nach dem Sprichwort:„Wer reich stirbt, stirbt unehrenhaft.“ Jedenfalls haben sie oft durch das Verfolgen eigener Ziele viel Geld verdient, stiften es dann aber dem Gemeinwohl.

Ist Moral tolerant?

Toleranz gehört zu den wichtigsten Forderungen der Moral. Einerseits. Andererseits: Wenn die Moral als Moral gefordert ist und zum Beispiel sagt: Man darf nicht töten, und trotzdem getötet wird, darf sie nicht tolerant sein.Der amerikanische Präsident George W. Bush sieht sich selber auf der guten Seite und meint, gegen das Böse kämpfen zu müssen. Er betont, moralisch zu handeln. Politiker verwenden gern die Worte Moral und Gerechtigkeit, weil es Worte sind, in deren Namen man Leidenschaften anstacheln und Zustimmung erheischen kann. Politiker sollten sich vor der Gefahr der Selbstgerechtigkeit hüten.Amerika wurde wegen der Religionsfreiheit und im Namen der damals herrschenden Aufklärung gegründet. Dazu gehörte ein gut geschultes Rechtsbewusstsein. Unter das Niveau von damals sollte man nicht zurückfallen.

Wenn man sich auf die Moral beruft und Handlungen unterlässt, nur um ja nicht unmoralisch zu handeln – kann man es sich gemütlich machen und trotzdem moralisch sein?

Moral und Gemütlichkeit im Sinne von einem Glas Rotwein und einem guten Fernsehprogramm passen nicht zusammen. Zur Moral gehören Gebote und Verbote. Wegschauen zum Beispiel ist unmoralisch und entlastet nicht.Trotzdem muss man nicht einschreiten, wenn man beobachtet, wie eine alte Dame von einem Dutzend Jugendlicher
verprügelt wird,weil es sein könnte,dass man selber verprügelt wird – auch wenn man damit rechnen muss, dass der Dame nicht geholfen wird. Sinnvoller ist es, nachzudenken und gegebenenfalls angemessene Hilfe zu holen. Dort, wo man durch ein hohes Maß an Rechtschaffenheit zu Recht ein moralisch gutes Gewissen hat, trifft das Sprichwort zu: Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. Zu diesem Zweck muss man aber viel an sich arbeiten.

Ist man ohne Moral,wenn man unmoralisch denkt?

Wir sind alle verführbar, deshalb lässt es sich gar nicht ausschließen, dass wir auf falsche Gedanken kommen.Wer aber unmoralische Gedanken mit Fleiß hegt und pflegt, fängt an, unmoralisch zu werden.Wer aber einfach mal voller Wut denkt: „Ich will den am liebsten umbringen, so ungerecht fühle ich mich behandelt“, der ist von tatsächlichem unmoralischem Handeln noch meilenweit entfernt. Moral hilft also auf dem Weg zu einem zufriedenen und guten Leben.

Welche Frage nach dem richtigen Leben kann die Moral nicht beantworten?

Als Philosoph kann ich über Begriffe und Grundsätze reden.Was heißt ein richtiges oder gutes Leben? Was heißt Sinn des Lebens? Auch:Nach welchen Grundsätzen führt man ein gutes oder sinnvolles Leben? Für ein individuelles Leben muss sich aber jeder Mensch selber entscheiden – und es auch selber führen. Ein Gespräch mit guten Freunden kann bei der Suche nach dem richtigen Leben helfen - ein Philosoph kann einem die Entscheidung für das eine oder das andere nicht abnehmen.

Was wird sich in Jahrzehnten als moralisch erweisen, was heute noch als unmoralisch empfunden wird?

Ich kann nur meine Hoffnung aussprechen, dass vor allem in altorientalisch geprägten Kulturen die Gleichberechtigung von Mann und Frau eingeführt wird, ferner eine Toleranz gegenüber anderen Kulturen und die Anerkennung anders denkender Menschen – selbst wenn man meint,deren Lebensweise mache nicht so glücklich wie die eigene. 

Macht moralisches Handeln glücklich?

Es kommt darauf an, wie wir Glück verstehen. Moral macht weder reicher noch gesünder. Sie schafft vielleicht manchmal Anerkennung bei anderen,muss es aber nicht. In der Regel sorgt sie für Anerkennung vor sich selbst. Insofern ist die Moral für ein glückliches Leben notwendig – aber nur fast. Denn es gibt auch Schufte und Bösewichte, die glücklich sind.

Ist das die gleiche Qualität von Glück?

Wenn man unter Glück nicht nur das Sichwohl- Fühlen versteht, sondern auch die Achtung durch andere, kann man sagen: Diese Qualität von Glück erreicht der Schuft nicht. Aber vielleicht stört ihn das nicht.

Otfried Höffe, 62, ist Professor für Philosophie an der Universität Tübingen. Zum Weiterlesen empfiehlt er seine Bücher Lexikon der Ethik und Lesebuch zur Ethik.