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„Man kann von einem Regime nicht erwarten, dass es rational handelt“

Trotz der Drohungen aus Peking demonstrieren in Hongkong Hunderttausende für die Demokratie, die ihnen einst versprochen wurde. Vorne mit dabei: der hafterprobte Joshua Wong. Wir haben mit ihm gesprochen

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Seit zweieinhalb Monaten liegt in Hongkong der Alltag lahm. Demonstranten besetzen die Straßen und teilweise das Stadtparlament, Polizisten schießen mit Wasserwerfern und Tränengas. Am vergangenen Sonntag sollen nach Angaben der Veranstalter 1,7 Millionen Menschen gegen politische Einflussnahme aus China protestiert haben. Ihr akutes Ziel haben sie zunächst erreicht: die Aussetzung eines geplanten Gesetzes, das es ermöglicht hätte, strafrechtlich verdächtigte oder verurteilte Personen aus Hongkong an chinesische Behörden auszuliefern. Kritiker sahen dadurch die juristische Unabhängigkeit bedroht. Aber den überwiegend jungen Hongkongern geht es um viel mehr: Sie fordern die Demokratie, die ihnen einst versprochen wurde.

Als die 7-Millionen-Einwohner-Sonderverwaltungszone im Jahr 1997 nach 99 Jahren unter britischer Kolonialherrschaft wieder zu chinesischem Territorium wurde, gewährte ein britisch-chinesischer Übergabevertrag der Halbinsel Hongkong für 50 Jahre „weitgehende Autonomie“. Das Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ sollte in Hongkong liberale Rechte wie die Presse- und Versammlungsfreiheit sichern.

Auch sollten die Hongkonger Bürger ihre Regierung frei wählen können. Stattdessen ist es der chinesischen Regierung in Peking durch ein umfassendes Nominierungsverfahren de facto möglich, die Kandidatenliste bei Gouverneurswahlen auf von Peking erwünschte Politiker zu begrenzen. Auch dieses Systems wollen die Demonstranten reformieren.

Viele fühlen sich heute an den Herbst 2014 erinnert: Damals zogen unter dem Banner des „umbrella movement“ Zehntausende durch die Straßen, um sich gegen eine schleichende Abschaffung der ohnehin fragilen Demokratie im Stadtstaat zu wehren. Über Wochen wurde friedlich unter Regenschirmen demonstriert, die als Schutz vor den Wasserwerfern der Polizei dienten. Allerdings ohne nennenswerte Erfolge für die Demonstranten. Stattdessen wurden zahlreiche Anführer zu Haft- oder Bewährungsstrafen verurteilt. Darunter war der mittlerweile 22-jährige Joshua Wong (Titelbild), der heute wieder zu den Anführern der Protestler gehört.

fluter.de: Herr Wong, als wir vor einem guten Jahr miteinander sprachen, standen Sie nach drei Monaten Haft gerade vor der Rückkehr ins Gefängnis. Nun sind Sie zwar auf freiem Fuß, aber auf dem besten Weg, erneut wegen „Auflehnung gegen die Staatsgewalt“ verfolgt zu werden.

Joshua Wong: Ich und mittlerweile fast zwei Millionen weitere Bürger Hongkongs demonstrieren für die Rechte, die uns versprochen wurden. Das Basic Law von Hongkong, quasi unsere Verfassung, garantiert uns Versammlungsfreiheit. Ich sehe nicht, was daran falsch sein sollte, für unsere Rechte auf die Straße zu gehen.

Die Demonstration am vergangenen Sonntag war zum Beispiel nur für den Victoria Park genehmigt – die Proteste zogen sich aber über ganze Straßen hinweg.

Wir waren am Sonntag überraschend viele Menschen und haben friedlich demonstriert. Wir werden nicht aufhören zu demonstrieren, bis wir unsere Forderungen realisiert haben.

„Ich wüsste nicht, wie ein Kompromiss aussehen sollte. Wenn wir sagen würden ‚Carrie Lam kann bleiben, aber wir wollen demokratisch unsere Regierung wählen’ ist das ja ein Widerspruch.“

Die Forderung, das Auslieferungsgesetz der Hongkonger Regierung zurückzunehmen, wurde bereits weitgehend erfüllt. Was fordern Sie noch?

Zentral sind für uns drei Punkte. Erstens muss die Gewalt durch Hongkongs Polizei ein sofortiges Ende finden. Mehrere Demonstranten wurden schon verletzt. Zweitens muss Carrie Lam vom Posten als Regierungschefin von Hongkong zurücktreten. Sie hat keinen Rückhalt in der Bevölkerung, und das wird sich auch nicht mehr ändern. Denn drittens müssen Hongkongs Bürger ihre Regierung selbst wählen können. [Anm.: Die chinatreue Regierungschefin Lam wurde von einem Komitee gewählt, das zum Großteil aus von Peking bestimmten Mitgliedern bestand.] Nur so können wir sozialen Frieden schließen.

Gibt es für Sie einen gangbaren Mittelweg, zum Beispiel eine Forderung, die entbehrlich wäre, um eine andere zu erreichen?

Ich wüsste nicht, wie ein Kompromiss aussehen sollte. Wenn wir sagen: „Carrie Lam kann bleiben, aber wir wollen demokratisch unsere Regierung wählen“, wäre das ja ein Widerspruch. Wir fordern nur, was uns laut Verträgen und Versprechen zusteht. Und Gewalt der Polizei gegenüber den Bürgern, die eigentlich von ihr beschützt werden müssten, ist inakzeptabel.

Die Zeit im Gefängnis hat nicht an Ihren Überzeugungen gerüttelt.

Nein, die Zeit hat mich in meinem Glauben bestärkt, für das zu kämpfen, was uns Hongkongern zusteht. Und dass wir am vergangenen Sonntag 1,7 Millionen Menschen auf die Straße bekommen haben, obwohl Chinas Armee droht, alles niederzuschmettern, stärkt meine Überzeugungen nur weiter.

In Shenzhen, einer benachbarten Metropole auf dem chinesischen Festland, sind bereits Panzer vorgefahren. Haben Sie Angst?

Angst hilft uns nicht weiter. Wir denken an unsere Forderungen und daran, dass wir Hongkonger nicht nachgeben werden.

„Wir brauchen die Unterstützung der Anführer der Welt. Es geht hier nämlich nicht nur um unsere kleine Halbinsel – es geht um das Aufhalten der Expansion des autokratischen chinesischen Politikmodells.“

Glauben Sie, dass Chinas Regierung wirklich in Hongkong einmarschieren würde?

Wir wissen überhaupt nicht, wie Chinas Regierung in Peking in den kommenden Tagen und Wochen reagieren wird. Es ist nicht rational von Peking, Gewalt einzusetzen, die wird den Konflikt hier nicht lösen. Aber was wir sehr wohl wissen: Man kann von einem Regime nicht erwarten, dass es rational handelt.

Was würden Sie im Falle eines militärischen Einmarsches chinesischer Truppen tun?

Wir wollen keine Gewalt. Aber wir brauchen die Unterstützung der Anführer der Welt. Das betrifft unter anderem die Europäische Union, die USA und andere demokratische Staaten. Es geht hier nicht nur um unsere kleine Halbinsel – es geht um das Aufhalten der Expansion des autokratischen chinesischen Politikmodells, um die Stabilität des Finanzzentrums Hongkongs und damit um die globale Finanzstabilität. Und es geht um das Einhalten des Versprechens von Demokratie, das uns gemacht wurde.

Bisher ist von den mächtigsten Staaten der Welt nicht viel zu hören. Wie erklären Sie sich das?

Die Handelsbeziehungen mit China sind für diese Länder wichtig, deshalb sind sie zögerlich. Wenn China nicht davon abgehalten wird, Hongkong unter seine Kontrolle zu bringen, schreitet die rücksichtslose Expansion Pekings weiter voran. Das kann nicht im Interesse der westlichen Länder sein. Man muss sich nur ansehen, wie Unternehmen wie Huawei den Weltmarkt mit fragwürdigen Mitteln erobern.

Was sollte die internationale Gemeinschaft Ihrer Meinung nach tun?

Gegenüber China sollten unter anderem Wirtschaftssanktionen verhängt werden, wie es auch mit anderen Regierungen gemacht wird. Es muss Druck aufgebaut werden. Das ist die klügste Strategie, auch wenn sie kurzfristig ein wirtschaftliches Problem für einige Länder sein mag.

Wie sehen die nächsten Tage bei Ihnen aus?

Wir planen die nächsten Aufmärsche. Und dann marschieren wir. Das machen wir so lange, bis wir unseren Willen durchsetzen. Wir haben 80 Prozent der Hongkonger hinter uns. Und hoffentlich auch bald die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft.

Titelbild: Carl Court/Getty Images

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