Ärzte und Pfleger, das ist ja immer so eine Sache. Das Verhältnis zwischen den beiden Berufsgruppen gilt als schwierig. Und während MedizinstudentInnen ihre drei Monate Pflegepraktikum bei den Schwestern gelangweilt absitzen, nutzen diese die Gelegenheit, den eingebildeten angehenden Halbgöttern noch mal ordentlich einen mitzugeben. So viel zu meinen Erwartungen an die ersten vier Wochen meines dreimonatigen Pflegepraktikums. Und so viel vorweg: Sie wurden enttäuscht.

Kann man sich da nicht was Leichteres suchen, einen Bereich, der einen nicht so mitnimmt?

Wie gewünscht, tauche ich in den Alltag der onkologischen Station eines Hamburger Krankenhauses ein. Das bedeutet: PatientInnen mit Krebs, schwere Schicksalsschläge, Todesfälle, viele Morphiumspritzen und tiefgründige Gespräche. Was treibt mich dazu? Kann man sich da nicht was Leichteres suchen, einen Bereich, der einen nicht so mitnimmt? Ich weiß nicht genau warum, aber ich weiß, dass ich genau das kennenlernen wollte. Dass das Sterben oft tabuisiert und viel zu wenig darüber gesprochen wird, davon bin ich schon lange überzeugt. Dass es schwierig und wichtig ist, die Endlichkeit von Jugend und Leben zu akzeptieren, ahne ich. Im Alltag sind diese Themen weit weg – vielleicht finde ich es deshalb interessant, mich hier damit zu konfrontieren.

Die ersten Tage sind wie eine Ausbildung zum examinierten Blutdruckmesser. Ich klappere jeden Morgen ein Zimmer nach dem anderen ab. Beim Smalltalk mit den Patientinnen und Patienten komme ich mir manchmal vor wie ein Friseur, der krampfhaft nach Gesprächsstoff sucht, um die Stille zwischen „Haben Sie Schmerzen?“ und „Wann hatten Sie zuletzt Stuhlgang?“ zu füllen. Zum Glück ist das Hamburger Wetter sehr wechselhaft in diesem Monat, da gibt es immer etwas zu besprechen.

Langsam merke ich, worauf ich mich eingelassen habe

Gleich am zweiten Tag versterben zwei Patienten auf unserer Station. Schwester Franziska macht das Fenster auf: „Damit die Seele nach draußen kann.“ Langsam merke ich, worauf ich mich eingelassen habe. Am schwierigsten finde ich dabei, dass wenig Zeit zum Verarbeiten bleibt, denn am nächsten Tag liegen neue Patienten in denselben Zimmern und verdrängen meine Erinnerungen. Die Menschen werden zu Nummern, die möglichst schnell durchgeschleust werden müssen. Sie unterscheiden sich in ihren Diagnosen und in ihrem Umgang damit, darin, dass sie freundlich oder verbittert sind. Mich beeindruckt eine sowohl blinde als auch schwerhörige Frau, die sich kaum noch bewegen kann, aber große Gelassenheit ausstrahlt.

 
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Mir fällt positiv auf, dass auf meiner Station wenig gelästert wird, sondern viele Pflegerinnen und Pfleger den Patientenkontakt offenbar genießen. Ich habe das Gefühl, dass die meisten ihren Beruf gerne ausüben. Nur über die Arbeitsbedingungen beklagen sich fast alle. An meinem dritten Tag wird einer jungen Pflegerin gekündigt, weil sie in der Probezeit zu oft krank war – und das, wo doch drei andere vor Kurzem gekündigt haben und das Team völlig unterbesetzt ist. Die Nachricht drückt auf die Stimmung. Man redet darüber, was alles schiefläuft, ich höre unschöne Geschichten über Operationen an alten Menschen, die ihnen außer Stress nichts bringen, aber bei denen junge Assistenzärzte üben und das Haus abkassieren kann.

Wenn das immer so wäre, wäre das mein Traumjob

Als an einem Freitag fast die Hälfte der Patientinnen und Patienten auf einmal entlassen wird, teilt man mir mit, dass dies weniger medizinische denn finanzielle Gründe habe. Nach einer bestimmten Aufenthaltsdauer bekäme das Krankenhaus kein Geld mehr für die Patienten, deshalb würden sie lieber früher als später entlassen. An diesem Wochenende, an dem nur die Hälfte der Betten besetzt ist, macht das Haus wahrscheinlich trotzdem ein schlechtes Geschäft, weil niemand über die Notaufnahme nachkommt. Das Wetter ist zu gut. An diesem Wochenende sehe ich aber den deutlichen Vorteil, den mehr Zeit für die Patienten – also mehr Personal – bringen würde. Die Stimmung unter den Krankenschwestern ist gut, geradezu ausgelassen: „Wenn das immer so wäre, wäre das mein Traumjob. Aber so, wie es normalerweise ist, halte ich es nicht mehr lange aus“, sagt Heidi.

Wie sieht es aus mit dem Pflegenotstand?

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Doch an diesem Wochenende ist Zeit für Gespräche mit den Menschen. Es ist plötzlich Zeit da, Herrn S. mal auf einen Stuhl zu setzen, auf den er es alleine nicht schafft, wo er aber täglich eine halbe Stunde sitzen sollte, um sich langsam zu mobilisieren. Wir haben Zeit, um die bettlägerige Frau B. ordnungsgemäß zu lagern und alle zwei Stunden die Position zu wechseln, damit sie sich nicht wundliegt. Im Normalbetrieb geht das meistens unter, weil dem Personal hundert andere Sachen durch den Kopf schwirren, die noch erledigt werden müssen. Ich finde es spannend, wie sehr sich die geringere Patientenzahl auf die Arbeit auswirkt. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob sich eine Schwester und eine Schülerin um neun oder um 18 Menschen kümmern. An diesem Wochenende höre ich auffällig oft das Wort „Danke“.

Als Praktikant stehe ich weit unten in der steilen Krankenhaushierarchie, glücklicherweise lassen mich meine Kolleginnen und Kollegen dies aber kaum spüren. Hier empfinde ich es in mancher Hinsicht sogar als einen Vorteil, keine vollwertige Arbeitskraft zu sein, weil ich mir häufig einfach Zeit nehmen kann, mich mit PatientInnen zu unterhalten, wenn ich das Gefühl habe, dass es hilfreich sein könnte. Und das ist im Nachhinein meist das Schönste an einem Arbeitstag.

Manchmal bin ich überrascht, wie schnell ich als ungelernter Trottel in Situationen gerate, in denen ich Menschen in sehr intimen Momenten beistehen muss 

Völlig ansatzlos ergeben sich Gespräche über tiefste Ängste und Probleme, von körperlicher Intimsphäre ganz zu schweigen. Als ich in der ersten Woche alleine mit einem Patienten bin, der so röchelt, dass er keine Luft mehr bekommt, ist mein Kopf plötzlich leer. Ich habe keine Idee, was ich tun könnte, und drücke nur noch die Notfallklingel. Franziska eilt herbei, schließt ihn ganz ruhig an die Sauerstoffzufuhr an und flüstert ihm zu, dass alles halb so wild sei. So macht man das also. Ich komme mir ziemlich naiv vor. Kurze Zeit später bleibe ich vor einem Plakat im Flur unserer Station stehen. Es ist eines von den vielen, die im ganzen Krankenhaus hängen und auf denen schlaue Zitate von klugen Menschen stehen: „Man ist nicht nur verantwortlich für das, was man tut, sondern auch für das, was man nicht tut.“ Na toll, vielen Dank auch.

Illustrationen: Bureau Chateau / Jannis Pätzold