Herr Geißler, das Gefühl, Zeit zu haben, macht einen glücklich. Warum?

So generell stimmt das nicht. Arbeitslose beispielsweise können sehr unglücklich sein, einsame Menschen auch, nicht zuletzt, weil sie zu viel Zeit und zu wenig zu tun haben. Glücklich - oder besser: zufrieden - sind dagegen diejenigen, die nach ihren Vorstellungen über Zeit verfügen können.

Aber das scheint nur wenigen zu gelingen. Die meisten Menschen haben doch immer Angst, etwas zu versäumen. 

Eigentlich versäumt man nur dann etwas, wenn man sich im Leben materielle Ziele setzt. Diese Angst kann nur dann entstehen, wenn man Zeit mit Geld, mit Erlebnissen oder Erfahrungen verrechnet - zum Beispiel viele Leute kennen zu lernen oder reich zu werden. Sobald Sie aufhören, ständig alles mit Zeit zu verrechnen, werden Sie keine Angst mehr haben, etwas zu versäumen, nur vor der eigenen Endlichkeit, dem Tod.

Ist die Angst vor dem Tod auch der Grund, warum der Mensch so rastlos ist?

Das Streben nach Wohlstand macht den Menschen rastlos. Seit kurzem wird an Bushaltestellen auf die Minute genau angezeigt, wie lange es dauert, bis der nächste Bus kommt. Das ist praktisch, die Leute können so noch schnell zur Post gehen oder ein Telefonat führen oder etwas kaufen. Die Zeit also nutzen. In Zukunft wird es an Haltestellen auch noch Automaten geben, an denen man Geld ausgeben kann, während man wartet, für Kinokarten zum Beispiel. Man vertreibt sich das Warten also mit Konsum.

Dann ist also der Kapitalismus schuld an der Rastlosigkeit?

Die Uhr ist schuld an der Erfindung des Kapitalismus. Seit 500 Jahren gibt es die Uhr. Davor lebten die Menschen nach der Natur. Mit den Hühnern wurde schlafen gegangen und mit dem ersten Hahnenschrei ist man aufgewacht. Die Natur war von Gott geschaffen und so haben außer der Natur nur kirchliche Rituale den Tag strukturiert: Gott war der Besitzer der Zeit und niemand durfte diese Ordnung ändern. Erst in der Renaissance begannen die Menschen über die Zeit zu bestimmen. Sie wollten nicht mehr von der Natur abhängig sein. Dazu brauchte man Instrumente - die mechanische Uhr war das wichtigste. 

Die Uhr allein genügt aber doch nicht. 

Nein. Man benötigte auch eine Zeitordnung und erfand abstrakte Zeiten. Es wurde festgelegt, dass eine Stunde immer gleich lang ist, weil sie sich immer aus sechzig Minuten zusammensetzt. Damit hatte man Maßstäbe, um Zeit in Geld zu verrechnen. Als man das konnte, war es auch möglich, Handel mit der Zeit zu treiben. Das Resultat waren die Gründungen der ersten Banken und die Erfindung der Buchhaltung.

Der Kapitalismus war geboren. 

Genau. Banken und Versicherungen basieren auf dem Handel mit Zeit. Mit der Uhr konnte man jetzt messen, ob man in der gleichen Zeit mehr oder weniger Geld verdient hatte. Da man bestrebt war, immer mehr Geld in der gleichen Zeit zu verdienen, musste man immer schneller werden. Das wichtigste Mittel, um den Beschleunigungsprozess in Gang zu setzen, war die Veränderung der Transportgeschwindigkeit durch die Erfindung der Dampfmaschine. Zuvor war die Transportgeschwindigkeit von Segelschiffen und Pferden bestimmt. Aber die konnte man irgendwann nicht mehr beschleunigen. Versuchen Sie mal den Wind anzutreiben. Durch die Beschleunigungsmöglichkeiten von Dampfmaschine, Eisenbahn, Auto und Flugzeug sind wir schneller geworden und reicher - um den Preis von mehr Zeitdruck und Zeitnot.

Und bei welchem Tempo sind wir jetzt angekommen?

Die Zeit der Beschleunigung geht zu Ende, weil wir beim Transport unserer wichtigsten Wirtschaftsgüter, der Informationen, bei der Lichtgeschwindigkeit angekommen sind. Das neue Beschleunigungsmittel heißt jetzt "Gleichzeitigkeit". Die Menschen werden zu Simultanten. 

Was ist denn ein Simultant?

Ein Simultant steigert die Beschleunigung durch Gleichzeitigkeit, durch Parallelarbeit. Wer drei Dinge gleichzeitig macht, kann mehr Geld verdienen, mehr erleben und mehr erledigen. Zu Hause zum Beispiel bügeln, ein Hörbuch anhören und die Kinder beaufsichtigen. Oder im Büro: Mails lesen, telefonieren, den Drucker bedienen und dabei am Schreibtisch zu Mittag essen. 

Ist es denn gut, als Simultant zu leben, oder schlecht?

Das hat Vor- und Nachteile, aber wir haben sowieso keine andere Wahl, wenn wir mit der Zeit gehen wollen. Ein Vorteil ist: Sie können im Urlaub am Strand sitzen und gleichzeitig mit dem Laptop Ihre Mails abrufen oder mit dem Handy telefonieren. Das ist ein gutes Beispiel für die Vermischung der verschiedenen Zeitformen: die Langsamkeit der Natur und die Schnelligkeit des Datenaustausches. Sie können rund um die Uhr Geld verdienen oder Geld ausgeben. Sie können rund um die Uhr Dinge erleben, reisen, unterwegs sein.

Das waren bisher nur Vorteile. Kommen Sie bitte mal zu den Nachteilen.

Die Einsamkeit ist eine negative Folge, denn die zunehmende Schnelligkeit und der ständige Wechsel zwischen Orten, Tätigkeiten und Erlebnissen macht relativ einsam. Zwischenmenschlichkeit braucht Langsamkeit. Sonst kommt es nicht zu dem Gefühl von Nähe. Wer mit dem Laptop im Urlaub seine Mails abruft, kümmert sich in dieser Zeit eben nicht um seine Kinder, den Ehepartner oder Freunde. Die Langsamen, die alten Menschen werden in Heime abgeschoben, weil es zu Hause zu schnell zugeht. Es fehlt die Ruhe für die Pflege. Auch für Kinder fehlt Zeit, deshalb bekommen die Deutschen auch immer weniger. Das Langsame wird in unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Ganz massiv. Das setzt alles Soziale - Familien, Vereine, Kirchen, Verbände - unter Druck.

Gibt es eine Möglichkeit, diesen Gefahren der Gleichzeitigkeit zu entkommen?

Man sollte den Tag so einteilen, dass man verschiedene Zeitformen leben kann: schnell sein, langsam sein, warten können, Pausen machen und Dinge auch mal wiederholen. Es muss langsame Zeiten geben, in denen man sich seinen Mitmenschen widmet, und schnellere Zeiten, in denen man dem Beruf nachgeht. Denn nur die gelebte Zeitvielfalt macht zufrieden. Zum Beispiel sollte man deshalb darauf achten, dass das Wohnzimmer nicht Büro wird. Man sollte nicht immer das Telefon mit sich herumtragen. Man sollte nach dem Motto leben: Arbeit ist Zeitversessenheit, Liebe ist Zeitvergessenheit.

Aber wie vergisst man die Zeit?

Verlieben Sie sich! Nein, im Ernst - ich empfehle folgende Übung: Setzen Sie sich an einen ruhigen Ort mit einem Zettel und einem Stift. Und schreiben Sie eine Stunde lang auf, was Sie in dieser Stunde sein lassen können. E-Mails abrufen, Termine ausmachen, etwas lesen, aufräumen, Sport machen und so weiter. Da wird eine Menge zusammenkommen. Und in der nächsten Stunde machen Sie genau diese Dinge nicht, Sie lassen sie sein. 

Dann könnte es einem schnell langweilig werden. 

Aber genau darum geht es. Sie müssen üben, diese Langeweile auszuhalten. Denn nach der Langeweile kommt die Muße. Und das ist ein unglaublich schönes Gefühl. Wenn Sie es geschafft haben, die anfängliche Langeweile nicht zu vertreiben, dann verlängern Sie die Übung auf zwei oder drei Stunden. Und schließlich auf einen ganzen Tag. Dinge sein zu lassen ist eine große Kunst, eine Art Meditation. Wenn Sie das dann irgendwann einmal über mehrere Tage hinweg machen wollen, weil es Ihnen so gut tut, dürfen Sie aber nicht vergessen, Ihren Angehörigen und Vorgesetzten Bescheid zu sagen. 

Kann man es auch so sagen: Man sollte einfach mehr faulenzen? 

Wenn Sie so wollen, ist Faulenzen ein Anfang. Schon das Wort "faulenzen" ist allerdings eine Diskriminierung: Jemand, der nichts tut, ist faul - wie ein Apfel, den man wegwirft. Professoren machen das geschickter: Wenn sie faulenzen, sagen sie einfach: "Ich denke nach." Und damit sind sie aus dem Schneider.

Aber gegen die Einsamkeit hilft das jetzt auch nicht. 

Gut, wenn Ihnen diese Art der Meditation nicht liegt, machen Sie es radikaler: Schmeißen Sie Ihr Handy weg, den Fernseher gleich hinterher, und verkaufen Sie Ihr Auto. Sie werden sich wundern, wie sich Ihr Umgang mit Zeit plötzlich verändert, wie viel Zeit Sie haben, um Freunde zu treffen oder sich um die Familie zu kümmern. Da wird Ihnen nicht langweilig. Zumindest dann nicht, wenn Sie es lange genug durchhalten. Versprochen.