Thema – Corona

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Schlechte Ausbeute

Ungenügend versichert, schlecht bezahlt, mies untergebracht: In der Pandemie geht es vielen Saisonarbeitskräften noch schlechter als sowieso schon. Hier erzählen sie von ihrem Corona-Jahr

Arbeitskräfte kommen am frühen morgen mit einem alten Bus auf einer Apfelplantage in Sachsen an

Wenn Marco Richard um kurz nach sechs Uhr morgens in der Dämmerung aus dem grauen Blechcontainer kommt, leuchten auf dem Hof schon die ersten Scheinwerfer der Traktoren. Es ist Apfelsaison, Mitte September, und Marco Richard ist aus Rumänien als Erntehelfer in ein sächsisches Dorf rund 50 Kilometer nordöstlich von Leipzig entfernt gekommen. Insgesamt acht Wochen wird er auf dem Feld stehen und Äpfel ernten. Bis zu neun Stunden am Tag, bei jedem Wetter.

 

Richard und seine Freundin Henrietta Tanko – er ist 20, sie 21 – sind zum ersten Mal in Deutschland, um auf dem Feld zu arbeiten. Die Saisonarbeiter:innen kommen überwiegend aus Rumänien, Polen oder Bulgarien zu den Betrieben in Deutschland, oft über Vermittlungsfirmen oder private Kontakte. Nur wenige sprechen Deutsch oder Englisch, die Papierarbeit übernehmen meist die Vermittler:innen.

Wie fair ist Saisonarbeit in Deutschland?

Die Arbeitsbedingungen für osteuropäische Saisonarbeiter:innen und Erntehelfer:innen stehen nicht erst seit der Corona-Pandemie in der Kritik. Lohnabzüge, schlechte Unterbringungsbedingungen, mangelnde Versicherungen sind nur einige der Vorwürfe, die immer wieder erhoben werden. Im April vergangenen Jahres gab es großen Wirbel um einen brandenburgischen Betrieb, in dem die Pässe der Saisonarbeitskräfte für die Zeit des Einsatzes einbehalten wurden.

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Marco Richard und seine Familie

Marco Richard (20) und seine Familie kommen aus einer Kleinstadt in Rumänien. Er ist das erste Mal zur Ernte in Deutschland

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Apfel

2020 wurden in Deutschland über 1 Mio. Tonnen Äpfel geerntet – ohne Saisonarbeitskräfte undenkbar (Quelle: Statistisches Bundesamt)

Michael Baumgarten vom Verein Peco-Institut für nachhaltige Entwicklung kritisiert diese Zustände. Das Institut hat gemeinsam mit Gewerkschaften, Vereinen und Einzelpersonen als „Initiative Faire Landarbeit“ einen Bericht zur Saisonarbeit in der Landwirtschaft für das Jahr 2020 herausgebracht. Darin heißt es, zu den sowieso schon bekannten oftmals schlechten Bedingungen für Erntehelfer:innen seien 2020 noch die Nichteinhaltung von Hygieneauflagen, extrem lange Arbeitszeiten und ein enorm hoher Arbeitsdruck wegen der geringen Zahl an Arbeitenden hinzugekommen.

Baumgarten sagt, dass viele Menschen aus Sorge vor einer Ansteckung mit Covid-19 nicht in Deutschland arbeiten wollten. In Rumänien beispielsweise, dem Herkunftsland von Marco Richard und seiner Familie, habe sich über die sozialen Medien schnell verbreitet, dass die Hygienemaßnahmen oftmals mangelhaft und die Flugreise riskant sei. Nur etwas mehr als die Hälfte der erwarteten Arbeitskräfte sind 2020 nach Deutschland gereist, häufig Arbeitende mit einfacher formaler Bildung oder aus armen Verhältnissen, meist aus ländlichen Gebieten.

In Dürrweitzschen sind die Hände von Marco Richard von den Ästen der Apfelbäume zerkratzt. Er habe viele Jobs, zum Beispiel als Fahrer, sagt Marco. „Aber das Geld hier ist besser.“ Er sei froh über die Möglichkeit, in Deutschland bei der Ernte helfen zu können. Die Arbeit sei nicht schwer, und in seiner Heimatstadt Sfântu Gheorghe gebe es nur wenige Jobs; tatsächlich wurden allein in Rumänien seit Beginn der Corona-Pandemie bis Ende Juni rund 430.000 Arbeitsverträge gekündigt.

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Containerunterkunft von rumänischen Saisonarbeitern

Nicht besonders hyggelig: Über 250 Euro müssen Saisonkräfte monatlich zahlen, um in einem dieser Container schlafen zu dürfen. Manche Betriebe nutzen die Unterbringung aus, um am Ende weniger als den Mindestlohn zu zahlen

Etwa fünf Minuten braucht Marco, um einen der kleinen Plastikkörbe vollzumachen, in denen die Äpfel gesammelt werden, bevor sie in großen Obstkisten landen. Acht Stunden am Tag, manchmal auch mehr, eine halbe Stunde Pause am Morgen, 15 Minuten am Nachmittag. Bezahlt wird er nach Mindestlohn: damals 9,35 Euro pro Stunde brutto, mittlerweile liegt er bei 9,50 Euro.

Sein Vorgesetzter sagt, die Überstunden würden an anderen Tagen wieder ausgeglichen. Eine häufige Ausrede von Betrieben, sagt hingegen Baumgarten. „Die meisten wissen, wie sie es handhaben, damit die Finanzkontrolle Schwarzarbeit nicht findet“, sagt er.

Ob Arbeitsgesetze eingehalten werden, lässt sich nur schwer überprüfen

Auch wenn Erntehelfer:innen per Gesetz nach dem deutschen Mindestlohn bezahlt werden müssen, lässt sich oft nicht feststellen, wie viel sie im Endeffekt tatsächlich verdienen – beispielsweise weil sie hohe Kosten für Unterkunft oder Anreise tragen müssen, die direkt von ihrem Lohn abgezogen werden. Bestimmte Abzüge, beispielsweise für ein Zimmer oder ein Bett, sind zwar erlaubt, jedoch nur bis zu einer Grenze von etwa 180 Euro pro Monat.

Einige Betriebe würden diese Grenze jedoch umgehen, indem sie die Wohnungen nicht selbst an die Arbeiter:innen vermieten, sondern dafür Tochtergesellschaften gründen. Ein Schlupfloch, das so im schlimmsten Fall die Mindestlohnregelung aushebelt. Neun Euro pro Nacht müssen zum Beispiel die Beschäftigten bei Marcos Betrieb zahlen – egal ob sie in einer Wohnung oder einem Container untergebracht sind. Die Container sind trostlose Orte mit wenig Platz und ohne irgendeine Art von Gemütlichkeit. Wenn Marco acht Wochen lang auf dem Feld erntet, dann zahlt er für diese Unterkunft insgesamt knapp über 500 Euro, ohne Verpflegung.

Rumänische Saisonarbeiter laufen um 6 Uhr Früh von ihrer Containerunterkunft zum Feld

Noch in der Dämmerung laufen Saisonarbeiter aufs Feld, in dem sie acht Stunden ernten werden. Morgens gibt es eine halbe Stunde Pause, nachmittags noch mal 15 Minuten

 

Die Frage, wie viel Lohn genau sie am Ende bekommen, stellt sich für viele Saisonarbeiter:innen allerdings oft gar nicht. Denn mehr, als sie in derselben Zeit in ihrem Heimatland verdienen können, ist es eigentlich immer. Fragt man die Saisonarbeiter:innen auf dem sächsischen Apfelfeld, wie zufrieden sie mit ihrer Arbeit hier sind, sagen alle, es sei gute Arbeit. Niemand spricht von Problemen. Auch Baumgarten sagt, man treffe immer wieder auf gute Betriebe, die die Regelungen vorbildlich umsetzen. Aber eben auch auf die, in denen die Erntehelfer:innen von Ausbeutung, mangelnden Hygienekonzepten, Lohndumping und Gewalt erzählen. Nur öffentlich darüber sprechen, das will kaum jemand.

Meist haben die Saisonbeschäftigten zudem weder eine Kranken- noch Sozialversicherung für die Zeit ihres Einsatzes in Deutschland. Fragt man Marco Richard, wie er und seine Familie versichert seien, wenn sie hier in Deutschland auf dem Feld arbeiten, dann zuckt er nur mit den Achseln. Sie haben keine Versicherung.

Eigentlich schreibt der Gesetzgeber vor, dass Landwirte ausländische Arbeitnehmer:innen ebenso anmelden, sozialversichern und Beiträge für sie zahlen müssen wie für deutsche Arbeitskräfte. So ist es in einer EU-Verordnung von 2004 festgehalten. Wenn die Saisonarbeitskräfte als sogenannte kurzfristig Beschäftigte angestellt sind, gilt die Regelung jedoch nicht. Solange sie nicht mehr als drei Monate im Jahr beschäftigt sind, müssen die Landwirte demnach keine Sozialversicherungsbeiträge für die Saisonarbeitskräfte zahlen.

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Geld

600 Euro – so viel bekommen Saisonarbeitskräfte für einen Monat harter Arbeit

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Apfelernte

… viele sind damit zufrieden, denn mehr als in der Heimat ist es allemal

Im Zuge der Corona-Pandemie wurden die Regelungen für kurzfristig Beschäftigte noch einmal ausgeweitet. Seit einem Beschluss vom März 2020 dürfen Erntehelfer:innen fünf Monate im Jahr sozialversicherungsfrei in Deutschland arbeiten. Das heißt, die Arbeitnehmer müssten sich dann theoretisch selbst eine Versicherung organisieren und bezahlen. Doch es erfolgt keine Kontrolle, ob es diesen Versicherungsschutz tatsächlich gibt – und keine Zahlen dazu. So zählt eine Statistik der Bundesagentur für Arbeit für 2019 etwa 103.539 Beschäftigungsverhältnisse von ausländischen Erntehelfern in Deutschland – davon 68 Prozent als „geringfügig beschäftigt“ angestellt und damit nicht versicherungspflichtig. Die Statistik erfasst jedoch nicht, wie groß der Anteil derjenigen ist, die sich tatsächlich privat versichern. NGOs kritisieren diese fehlende Verantwortungsübernahme des Staates. So manche Saisonarbeitskräfte arbeiten auf deutschen Feldern also fast ein halbes Jahr ohne Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung.

Dabei sind Versicherungen für Arbeitnehmer:innen insbesondere in Pandemiezeiten enorm wichtig. Während die Ausgangsbeschränkung in Deutschland im ersten Lockdown nicht einmal den Spaziergang von Menschen aus zwei Haushalten zuließ, waren die Saisonarbeiter:innen im Masseneinsatz auf den Feldern einer erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt.

Infektionsschutzwasnahmen? Darum müssen sich die Arbeitenden selbst kümmern

Auch bei Marcos Betrieb hapert es an Hygiene- und Infektionsschutzmaßnahmen. Zwar gibt es sowohl in den Wohnungen und Containern als auch auf dem Feld Hygienestationen mit Wasser, Seife und Desinfektionsmitteln sowie Hinweise zur Vorsorge, dennoch teilen sich häufig zwei Arbeiter:innen eine Unterkunft, die ansonsten keinen privaten Kontakt haben. Und auch sonst kann nicht überall auf Abstand und die erforderlichen Maßnahmen geachtet werden. Ein Teil der Arbeitenden wird morgens früh mit einem alten Bus zum Feld gefahren. Dicht gedrängt kleben ihre Körper in dem Fahrzeug aneinander, einige tragen Maske, andere nicht.

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Es wird gearbeitet bei Wind und Wetter

Auch wenn es ungemütlich wird, ernten die Saisonkräfte auf dem Feld weiter – manche ohne Kranken- oder Pflegeversicherung, die gerade wegen der Pandemie wichtig wären

„Man kann ja niemandem vorschreiben, Maske zu tragen“, sagt eine Betriebssprecherin im Oktober 2020. Baumgarten sagt, das höre er oft. Er habe nicht den Eindruck, dass überhaupt versucht werde, die Regelungen durchzusetzen. „Die Arbeitgeber, zu denen die Beschäftigten in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen, schieben die Verantwortung von sich, hin zu den Beschäftigten selbst.“

Der gemeinnützige Verein Peco-Institut unterstützt Maßnahmen, um die Saisonarbeitskräfte besser zu schützen. Zwölf Forderungen hat die Initiative „Faire Landarbeit“ Ende September 2020 verabschiedet: Die Unterbringungen sollen besser werden, die coronabedingten Ausnahmen im Arbeitszeitrecht wieder aufgehoben und fairere Löhne bezahlt werden. Die Bundesregierung hat zum Anfang des Jahres ein Gesetz für einen verbesserten Arbeits- und Gesundheitsschutz für die Fleischindustrie erlassen. Für die Landwirtschaft gibt es hingegen bislang keinen vergleichbaren Vorstoß.

Marco Richard und seine Familie werden auch im kommenden Jahr wieder zur Ernte kommen, da ist er sich sicher. Nur wie viel er nach den acht Wochen Ernte auf dem Apfelfeld eigentlich verdient, das, sagt er, zuckt mit den Schultern und lächelt, wisse er nicht.

Der Text ist im Rahmen einer geförderten Recherchereise entstanden.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.