fluter: Müssen die nächsten Generationen keine Angst mehr vor unheilbaren Krankheiten haben, weil die Gentherapie die Medizin revolutioniert?

Toni Cathomen: Davon sind wir noch sehr weit entfernt. Die Gentherapie hat zwar große Fortschritte gemacht, aber die Fortschritte sind auf ausgesuchte genetische Erkrankungen beschränkt. Es wird noch sehr lange dauern, bis alle genetischen Erkrankungen mithilfe von Gentherapie behandelt werden können.

Wie muss man sich überhaupt eine Gentherapie vorstellen? Ist das ein einmaliger Eingriff? Oder gibt es Medikamente, die regelmäßig eingenommen werden müssen?

Der große Vorteil der Gentherapie liegt darin, dass es ein einmaliger Eingriff ist. Ein Beispiel: Schwere Immundefekte können entweder durch eine Stammzelltransplantation eines passenden Spenders oder durch eine Gentherapie geheilt werden. Dafür entnimmt man den Patienten die Blutstammzellen und führt dann mithilfe von sogenannten Gen-Fähren oder Gen- Taxen eine gesunde Kopie des Gens in die Blutstammzelle ein. Aus den genetisch korrigierten Stammzellen entsteht dann wieder ein normales Immunsystem.

Das hört sich nach einem einfachen Verfahren an – ganz so, als gäbe es keine Risiken bei einer Gentherapie.

Die Risiken heutzutage liegen meistens in der mangelnden Effektivität. Das heißt, dass die Gene, die neu eingeschleust werden, nicht genau die Funktion übernehmen, die das defekte Gen im Körper hatte. Noch vor einigen Jahren bestand bei einer Gentherapie an Stammzellen die Gefahr, dass sich aus einer Blutstammzelle eine Leukämiezelle entwickelt. Die eingefügten Gen-Fähren hatten die Regulation potenziell krebsauslösender Gene beeinflusst. Mittlerweile haben wir das Problem jedoch erkannt und wissen, wie wir bessere Gen-Fähren herstellen und keine Leukämie mehr auslösen.

Wer kann eine Gentherapie überhaupt in Anspruch nehmen? Auch der normale Kassenpatient?

Leider nicht. Noch ist Gentherapie eine experimentelle Studie. Im Moment gibt es weltweit praktisch keine Gentherapie, die von einer Krankenkasse bezahlt wird. Gentherapien laufen über Forschungsprojekte und Studien und werden meist über Drittmittel oder durch Firmen finanziert. In Europa gibt es bisher zwei zugelassene Gentherapeutika: zum einen gegen einen schweren Immundefekt, zum anderen gegen eine seltene Fettsäurestoffwechselkrankheit. Dafür kostet die Therapie bis zu einer Million Euro, und natürlich gibt es da die Diskussion, wer das übernimmt. Allerdings kann man davon ausgehen, dass sich die Therapiekosten in Zukunft verringern werden, je mehr Gentherapeutika hergestellt werden.

In letzter Zeit hört man immer wieder von der Gentechnik-Methode namens CRISPR/Cas. Können Sie uns erklären, was sich dahinter verbirgt?

Im Gegensatz zur konventionellen Gentherapie kann man mit der CRISPR/Cas-Methode ganz gezielt das Erbgut verändern. Man benutzt dafür sogenannte Gen-Scheren, die man spezifisch für bestimmte genetische Erkrankungen herstellen kann. Damit steuert man ein ganz bestimmtes Gen an, schneidet es auf und tauscht dann die Sequenzabfolge, die die Krankheit verursacht, gegen eine gesunde aus. Das bedeutet, wir können wirklich da eingreifen, wo die Krankheit entsteht. Das ist eine Revolution. Im Labor funktioniert es schon extrem gut. Jetzt ist es eine Frage der Zeit, wann die ersten Studien am Menschen durchgeführt werden.

Spätestens dann bekommen ethische Fragen eine neue Dimension.

Was ethisch vertretbar ist und was nicht, wird bereits intensiv in Fachgesellschaften und zum Teil auch in den Medien diskutiert. Ich bin der Meinung, dass dabei klar unterschieden werden muss: Greifen wir in das Erbgut von Embryonen ein, um einen genetisch veränderten Embryo zu schaffen, der dann auch zur Welt kommt? Oder verwenden wir die Technologie in Körperstammzellen, weil wir einen therapeutischen Effekt erzielen wollen? In unserem Freiburger Institut für Zell- und Gentherapie setzen wir auch CRISPR/Cas ein – aber nur an Körperstammzellen. Bisher ist es in Deutschland verboten, in das Erbgut von Embryonen einzugreifen. Weltweit existiert allerdings kein Verbot. In Großbritannien ist es zum Beispiel für Forschungszwecke erlaubt, das Erbgut von Embryonen zu verändern. In den USA, Japan und China gibt es keine strikte Regelung. Häufig spielt die Ethikkommission der entsprechenden Universität eine große Rolle dabei, ob solche Studien zugelassen werden oder nicht. China geht allerdings mit großen Schritten voran. Dort sind bereits einige Experimente an Embryonen umgesetzt worden, die bestimmte Gene ausschalten. Ob das ethisch vertretbar ist, muss schlussendlich jeder Wissenschaftler selbst entscheiden, wenn er in diesen Ländern arbeitet.

Wer sind die kommerziellen Profiteure von Gentherapien?

In Zukunft die großen Pharmakonzerne. Im Moment investieren sie aber noch sehr viel Geld. Erst wenn man nicht nur seltene Erbkrankheiten behandeln kann, besteht die Möglichkeit, Geld mit Gentherapien zu verdienen. Bisher ist das nicht der Fall.

Inwieweit sind Behandlungswerkzeuge wie CRISPR/Cas bereits in der medizinischen Praxis angekommen?

In den USA wurde jetzt eine erste klinische Studie an Patienten zugelassen. Dabei geht es um eine Immuntherapie bei Krebs. Man muss sich das so vorstellen: Um Krebszellen zu bekämpfen, braucht man bestimmte Immunzellen – die heißen T-Zellen. Diese hat man für die Studie so verändert, dass sie die Krebszellen erkennen und eliminieren können. Bei experimentellen Studien vor zwei Jahren verschwanden nach der Therapie bei über 75 Prozent der behandelten Leukämiepatienten alle Krebszellen, das heißt, die Patienten hatten den Krebs komplett überwunden. Das wurde als großer Erfolg gefeiert. In den nächsten Jahren – davon geht man aus – wird über eine Milliarde Dollar in die CRISPR/Cas-Therapie fließen.

Seit wann ist es in Deutschland erlaubt, Menschen mithilfe von Gentherapie zu behandeln?

Vor circa zehn Jahren gab es die ersten klinischen Studien, alle bezogen sich auf Immundefektkrankheiten. Allerdings sind sie nicht erfolgreich verlaufen – vielleicht, weil die falschen Gen- Fähren eingesetzt wurden. Ein generelles Verbot gab es jedoch nie. Es war mehr eine Frage der Technologie: Wie weit sind wir, um überhaupt effektiv Gentherapien durchzuführen?

Angenommen, ich habe eine seltene Erbkrankheit und die Ärzte schaffen es, das dafür verantwortliche Gen zu reparieren. Werden meine Kinder dennoch daran erkranken können?

Ja, denn die Therapie setzt immer nur beim Patienten an. Wir dürfen per Gesetz nicht in die Keimbahn eingreifen, sprich: Wir dürfen nicht das Erbgut von Spermien oder Eizellen verändern. Nur dann würde es an die Nachkommen weitergegeben werden. Wenn wir also einen Patienten mit einer Erbkrankheit therapieren und er seine Krankheit überwindet, wird sie an seine Nachkommen weitergegeben werden. Wenn wir also einen Patienten mit einer Erbkrankheit therapieren und er seine Krankheit überwindet, werden seine Nachkommen immer noch das defekte Gen besitzen.

Gibt es auch schon gentherapeutische Erfolge bei Aids?

Bei HIV-Infektionen gibt es zwar gentherapeutische Ansätze, aber noch keine wirklichen Erfolge. Vieles sah im Tierversuch sehr vielversprechend aus, hat sich dann aber nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen lassen. Einfach, weil der Mensch viel komplexer ist. Seit CRISPR/Cas besteht die Hoffnung, dass man Gen-Scheren zur Heilung von HIV effektiv einsetzen kann.

Bei welcher Krankheit kann man denn heutzutage am meisten erreichen durch Gentherapie?

Die unglaublichsten Erfolge sind bei der Bekämpfung von Leukämie erzielt worden. Mehr als 300 Menschen, die nur noch eine Lebenserwartung von wenigen Monaten hatten, sind durch Gentherapie therapiert worden. Aber auch bei Immundefekterkrankungen konnten bereits viele Patienten gerettet werden.

Wie weit sind wir noch entfernt von einer routinemäßigen Reparatur unseres Genoms bei Erbkrankheiten?

Irgendwann wird es dazu kommen. Aber die Frage bleibt, wie zugänglich die Organe und Zellen sind, die wir therapieren müssen. Wenn ich eine Blutkrankheit oder Immunkrankheit therapieren will, weiß ich, dass ich die Blutstammzellen korrigieren muss. Beim Blut oder auch Organen wie der Leber oder dem Auge sind die Erfolge groß. Geht es allerdings um neuronale Defekte wie Parkinson oder Alzheimer, ist es extrem schwer, die Zellen zu erreichen, die wir therapieren müssen. Das wird noch viele Jahre dauern. Im Labor können wir jedes Erbgut so verändern, wie wir es haben wollen. Die klinische Realität sieht ein bisschen anders aus. Aber eines Tages gibt es sicher auch Gen-Fähren, um alle Nervenzellen in unserem Gehirn zu erreichen.

Dr. Toni Cathomen ist Professor und Direktor des Instituts für Zell- und Gentherapie des Freiburger Universitätsklinikums.