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Das Ich als Firma

Unsere Autorin will sich optimieren. Wie viel gesünder, produktiver, schöner, glücklicher und selbstbewusster kann sie in einer Woche werden?

Die Autorin liest beim Yoga

Vor ein paar Tagen stellte ein Bekannter auf LinkedIn seine neue Morning-Routine vor. Das ist die Zeitspanne zwischen Aufwachen und Arbeiten, in der Silicon-Valley-Manager*innen und Gwyneth Paltrow schon mehr hinkriegen als normale Menschen an einem ganzen Tag. Bei meinem Bekannten stehen jeden Morgen Frühsport, Kaltduschen, Meditation, LinkedIn, Product Hunt und Reflexionstagebuch an. Seit einem halben Jahr protokolliert sein Tagebuch auch seine OKRs. Die „Objectives and Key Results“ sind eine Methode aus dem Management, die er auf sein Privatleben anwendet, um seine Ziele nicht aus den Augen zu verlieren. Schon gar nicht am Morgen.

„Weil mir für ästhetische Eingriffe ein bisschen Geld fehlt und viel Mut, tritt das Thema Skincare in mein Leben“

Ich frage mich, ob so was nicht aus Versehen unglücklich macht. Woher der Drang, sich jeden Tag zu fragen, ob man nicht noch ein bisschen besser sein könnte? Produktivität macht mich glücklich, aber wie weit lässt sich das steigern? Und: Wo stünde ich heute mit der richtigen Morning-Routine?

Vielleicht finden Menschen ja Erfüllung darin, ihr Leben wie eine Firma zu betrachten, in der jede Minute prozessoptimiert genutzt werden kann. Womöglich ist es auch für mich noch nicht zu spät. Ich probiere es aus: Ich will nicht weniger als die optimale Woche verbringen. Sollte ich dabei mal durchatmen oder – Hilfe! – zweifeln, nehme ich Anja Röckes Buch „Soziologie der Selbstoptimierung“ zur Hand, um Tag für Tag schneller, schöner, effizienter und konzentrierter zu werden.

Montag: Körper

Seit Corona habe ich das Gefühl, ständig mit meinem Gesicht konfrontiert zu sein. In Videocalls schaue ich meine eigene Kachel an, beim Öffnen von Insta-Storys schau ich mir 200-mal täglich über die Frontkamera ins Gesicht, ja selbst beim Facetime-Anruf bei meiner Mutter habe ich im Grunde das Gefühl, mit mir selbst zu reden. Diese Selfiepermanenz scheint nicht nur mich zu verunsichern, die Schönheitschirurgie jedenfalls boomt. Weil mir für derlei ästhetische Eingriffe ein bisschen Geld fehlt und viel Mut, tritt das Thema Skincare in mein Leben.

Eine Freundin von mir hatte eines Tages einen auffallend guten Teint. Auf meine Frage, wo der so plötzlich herkäme, sagte sie: „Lena, alles, was dein Gesicht braucht, ist Vitamin A, B und C.“ Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutet, aber wenige Tage später glich mein Bad einer Apotheke. Kleine braune Glasfläschchen mit stilvollen Pipetten und Beschriftungen wie Hyaluronic Acid 2 % + B5, Vitamin C Suspension oder Retinol 0,5 % in Squalane. Ein Fläschchen mit roter Flüssigkeit verspricht, meine oberste Hautschicht wegzuätzen, bis mein Gesicht porenfrei ist. Nach ein paar Tagen und immer mehr Bestellungen stelle ich fest: Neben meinen Poren ist auch mein Selbstbewusstsein kleiner geworden. Kaum ist eine Gesichtsbaustelle behoben, entdecke ich eine neue. Wir Selbstoptimierer haben immer was zu tun. Und: Mit der Annahme, Selbstoptimierung sei nur etwas für Menschen mit viel Geld und Zeit, lag ich falsch. Skincare gibt es für sehr viel, aber auch sehr wenig Geld.

Beauty
Höher, schneller, reiner: Zur optimalen Woche gehört natürlich eine Skincare-Routine

Dass Selbstoptimierung demokratischer wird, beschreibt auch Anja Röcke in ihrem Buch. Sie nennt das eine Ausdifferenzierung der Konsumgesellschaft, die für jeden das passende Angebot bereithält: „Mc-FIT oder Holmes Place, Nahrungsergänzungsmittel der Drogerie-Hausmarke oder vom exquisiten Spezial-Internethandel, die noble Schönheitsklinik oder das günstige Angebot für den kleinen Geldbeutel.“ Wahrscheinlich gilt die These nicht für die Ärmsten einer Gesellschaft, die Zeit und Geld schlicht zum Überleben aufwenden müssen. Daneben aber können (oder müssen) sich heute viele Menschen optimieren, schreibt Röcke, auch die, die noch vor wenigen Jahren verschont geblieben wären. „Noch nie zuvor hat es das Phänomen der Selbstoptimierung in dieser umfassenden Form und mit dieser gesellschaftlichen Reichweite gegeben.“

„Burnout, Sportsucht oder Depression: Man muss sich Selbstoptimierer*innen nicht zwingend als glückliche Menschen vorstellen“

Apropos Reichweite. Einen weiteren ersten Schritt im Best-Body-Programm finde ich im Netz: Schritte zählen. Durch die Pandemie ist auch meine Wohnung zum Büro geworden, oft gehe ich an einem Tag maximal bis in die Küche. Ich nehme mir also vor, jeden Tag mindestens 10.000 Schritte zu gehen – besser mehr, ist ja klar.

Nach ein paar Tagen kommt von meinem Smartphone die frohe Botschaft: Du schaffst dieses Jahr durchschnittlich mehr Schritte pro Tag als im letzten Jahr. 15.000 im Schnitt, schon toll. Nur verfliegt die Euphorie schnell: Die Bewegung tut mir gut, aber oft geht es nur noch darum, eine Zahl zu erreichen. An Tagen, an denen ich den Schrittzähler besiege, fühle ich mich gut, egal ob der Spaziergang Spaß oder Sinn gemacht hat. Wenn ich das Ziel verfehle, bin ich enttäuscht. Selbstoptimierung konfrontiert einen, anders, als es auf Instagram aussieht, vor allem mit der eigenen Unfähigkeit. Röcke beschreibt Selbstoptimierung im Gegensatz zur Selbstverbesserung als Prozess, der zeitlich entgrenzt ist. Heißt: Es gibt kein Ende – und das kann krank machen. Burnout, Sportsucht oder Depression: Man muss sich Selbstoptimierer*innen nicht zwingend als glückliche Menschen vorstellen. 

Dienstag: Arbeit

Als freie Journalistin ist meine Arbeit ohnehin schon optimiert worden, nur leider nicht von Journalist*innen selbst: Gute Arbeit wird oft ungut bezahlt, hoher Aufwand trifft enge Deadlines. So geht es vielen Selbstständigen in der Kreativwirtschaft, die ganz entgegen dem Bild vom Freelancer, der nur arbeitet, wenn es nach zwölf ist und ihn die Muse küsst, nur überleben können, wenn sie ihre Arbeitszeit optimieren. Mein Endgegner dabei ist die ständige Ablenkung. Natürlich kennt die Selbstoptimierungsindustrie auch darauf eine Antwort: Pomodoro.

Die Idee: Die Arbeitszeit wird in 25-Minuten-Intervalle gegliedert, in denen sklavisch an der Arbeit festgehalten werden soll. Nach jedem Intervall gibt es fünf Minuten Pause, nach einigen solcher Einheiten auch eine längere Pause. Die Zeit stoppt man auf Seiten, die klingeln, wenn eine Einheit durch ist, oder mit einer dieser Küchenuhren, die aussehen wie eine Tomate. Daher der Name der Methode. 

Jetzt unterbricht das Klingeln des Pomodoro-Weckers leider ständig meine Tagträume. Für Steuererklärungen ist die Technik vermutlich perfekt, aber kreative Arbeit lässt sich nicht takten. 

Selbstoptimierung

Pomodoro
Die Pomodoro-Methode gibt es bereits seit Ende der 80er-Jahre. Damals hat es eine einfache Küchenuhr getan

Mittwoch: Ernährung

Als ich einen Freund frage, wie er sich selbst optimiert hat, sagt er nur: „Buchweizen.“ Seit fünf Tagen ernähre er sich von Buchweizen, morgens, mittags, abends, in verschiedenen Härtegraden. Ein paar Stunden später blubbert brauner Schleim auf meinem Herd, daneben ein Topf mit gedämpftem Gemüse ohne Salz. Buchweizen zählt zu den heimischen Superfoods, eigentlich ein Pseudogetreide, weil es frei von Weizen und Gluten ist. Es enthält viele Nährstoffe und eignet sich damit perfekt für einen optimierten Speiseplan. Nur schmecken tut es nicht. Und für meine optimale Woche wäre die Buchweizendiät ohnehin eine verschenkte Chance: In kaum einem Bereich des Lebens kann man sich so optimieren wie in dem der Ernährung.

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Unser Autor isst für sein Leben gern Lachs. Aber wie kommt der eigentlich auf seinen Teller? Die Frage hat ihm keine Ruhe gelassen

Vegetarisch, vegan, ökologisch, mit Fisch, ohne Fisch, regional, Paleo. Ich esse meist vegetarisch, ziemlich undogmatisch aber auch mal ein Schnitzel, und sonst nichts, das mein Leben verändern könnte. Als ich am Sonntag vor Antritt meines Selbstversuchs überlege, wie man sich optimal ernährt, finde ich in der Arte-Mediathek eine sehr lange Doku. Am Beispiel eines Tiefkühl-Cordon bleus (diese Speise, bei der zwischen zwei Scheiben Schwein Schinken und Käse rausläuft) prangert sie giftige Zusatzstoffe und Fettmacher in der Lebensmittelindustrie an. Wer nicht selbst mit frischen Lebensmitteln kocht, heißt es da, riskiert seine Gesundheit. Für alle, die keine Zeit haben (siehe Montag: Körper), jeden Tag unverarbeitete Lebensmittel zu verkochen, hat die Doku aber auch eine Lösung: Yuka, eine App zum Lebensmittelchecken. Einmal den Barcode gescannt, schon weiß ich, dass Hafermilch mega (natürlicher Zucker) und Sojawürstchen schlecht (zu viel Salz, E-Stoffe) sind.

Im Supermarkt stehe ich jetzt viel länger und häufiger im Weg, aber das ist mir im Kampf gegen Verfettung, Krebs und wovor die App sonst noch warnt, egal. Wenn ich irgendwann meine neue, optimale Produktpalette zusammenhabe, wird der Einkauf sicher schneller gehen. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dabei zu viel Zeit zu verlieren. In der Zeit könnte ich die Zusammenfassungen von mehreren Büchern lesen. Oder auf LinkedIn wertvolle berufliche Kontakte knüpfen.

„Wenn man nur sich selbst im Fokus hat, wird die Umgebung unscharf. Aber klar, ich könnte pro Tag auch eine halbe Stunde für den Zufall einplanen“

Zum Glück hat die Stadt die Lösung für mich: Lieferservices, die versprechen, Lebensmittel in unter zehn Minuten zu liefern. Eine Verheißung für Selbstoptimierer wie mich: Minuten im Supermarkt sparen, die meinem sogenannten produktiven Leben zugutekommen. Ich bestelle über die App. Und stelle schnell fest, dass meine neue Freiheit das Leben anderer eher suboptimal macht: Nach wenigen Minuten klingelt ein junger Mann, der gehetzt meinen Einkauf aus seinem kleinwagengroßen Rucksack fummelt und grußlos wieder kehrtmacht.

Überhaupt lässt mein selbstoptimiertes Leben wenig Platz für zufällige Begegnungen im Alltag, die sich nicht verwerten lassen. Ich treffe gehetzte Rucksackboten statt launiger Kassierer, übersehe beim Blick in die Yuka-App meine Nachbarin in der Schlange beim Bäcker und mit einem Jahresvorrat an Buchweizen fällt auch der nächtliche Döner aus. Wenn man nur sich selbst im Fokus hat, wird die Umgebung unscharf. Aber klar, ich könnte pro Tag auch eine halbe Stunde für den Zufall einplanen.

Donnerstag: Seele

Mein erster Tag im 5 AM Club beginnt um halb zehn. Mist, verschlafen. Der Club basiert auf dem gleichnamigen Buch, in dem der Autor Robin Sharma dazu ermutigt, schon nach der Hälfte der Nacht aufzustehen. Die Zeit zwischen fünf und sechs Uhr heißt bei Sharma „Siegesstunde“, weil man von niemandem abgelenkt wird und sich auf sich selbst konzentrieren kann. Die Stunde soll man bestenfalls der Bewegung, Reflexion und Weiterbildung widmen, zum Beispiel direkt nach dem Aufwachen Sport treiben, Tagebuch schreiben und zum Schluss „inspirational quotes“ erfolgreicher Menschen lesen.

Selbstoptimierung

Yoga
Fürs körperliche Optimum sei Hula-Hoop-Training unabdingbar, sagte man unserer Autorin. Nachdem sie bei Instagram Frauen gesehen hat, die ihre Reifen zu Country Musik schwingen, blieb sie doch bei Yoga

Meine erste wache Siegesstunde verlebe ich nach einigen missglückten Anläufen am Donnerstag. Ich lasse mich auf YouTube von einer Work-out-Frau anschreien, danach schreibe ich meine Ziele für die nächsten Jahre auf und lese. Nach dem Frühstück gehe ich direkt an den Schreibtisch. Es ist immer noch vor elf, ein gelungener Morgen. Dafür wird mein erster Tag im 5 AM Club lang und länger, um 21 Uhr schlafe ich auf der Couch wie ein Stein.

Ich bleibe bis Sonntag im 5 AM Club und gebe dann auf. Sharmas eigentliche Motivation scheint mir nicht der morgendliche Erfolg an sich, sondern das Gefühl der Erhabenheit: Während ihr alle noch schlaft, erarbeite ich mir schon einen Produktivitätsvorteil, von dem ich den Rest des Tages zehre. Meine Augen sind klein, aber von Genugtuung wie poliert. So will ich nicht sein. 

Freitag: Liebe

Das erste Opfer meiner optimalen Woche war genau genommen mein Freund. Ich mag ihn sehr. Aber nach Abwägung seiner Vor- und Nachteile stellte ich schon zu Beginn der Woche fest, dass die negativen Aspekte überwiegen. Er trug es mit Fassung, ich sitze am Ende der Woche mit Liebeskummer auf dem Sofa. 

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Das kann es doch nicht sein. Wie lassen sich meine Gefühle gewichten, wenn aus meinem Freund eine Pro-Kontra-Liste wird? Stellen sich jetzt schon Hormone in den unternehmerischen Dienst der Selbstoptimierung? Ich befrage meine Hausheilige Anja Röcke.

Sie sieht in amore vor allem sexuelles Potenzial: eine Bühne für das männliche Leistungsparadigma und einen Wachstumsmarkt für Potenzmittel. Frauen scheint da nur die hormonelle Verhütung zu bleiben, die Mädchen empfohlen wird, um schöne Haut und keine Babys zu bekommen, insgesamt also eher ihren Wert auf dem Arbeitsmarkt steigert. Alles ziemlich abgeklärt, alles interessant, alles nicht eben wirksam gegen meinen Liebeskummer. Ich greife zur Großsoziologin der Liebe: Bei Eva Illouz schließen sich ökonomisches Handeln und authentische Gefühle nicht aus. Sie schreibt, der Kapitalismus habe eine eigene Form berechnender Emotionalität ausgebildet. Ich muss an Freunde denken, die klagen, sie hätten wieder mal „zu viel in eine Beziehung investiert“. An Freundinnen, die auf Tinder rumswipen, als könne man Menschen in Warenkörbe verschieben. Mir ist diese Herzensnüchternheit nach gerade mal einer Woche als Liebespragmatikerin plötzlich ziemlich fremd.

Um Herz und Kopf zu trennen, überlege ich kurz, mich auf einer Seite für bezahlte Dates anzumelden. Da können Frauen ihre Aufmerksamkeit und Zeit an zahlende Männer verkaufen. Die Idee finde ich erfrischend. Wenn Dating ohnehin darauf hinausläuft, dass Menschen Beziehungen eingehen, um indirekt ihren Marktwert zu steigern: Warum nicht eine Dating-App, die ihr ökonomisches Prinzip offen vor sich herträgt? Liebe als Ware, no need for lies.

Soweit bin ich also gekommen in einer Woche Selbstoptimierung. Ich habe mir Ziele gesetzt und die dann auch erreicht, das gelingt sonst selten. Die Beschäftigung mit mir selbst war intensiv und gleichzeitig erholsam. Aber: ziemlich einsam. Wozu perfekte Poren, eine ausgefeilte Morning-Routine, alle Nährstoffe und ein volles Konto, wenn ich am Ende niemandem von meiner Einsamkeit erzählen kann? Von meinen Abstiegsängsten? Dem Gefühl, mit jeder Optimierung eine neue Stelle an mir aufzutun, die noch Luft nach oben hat? Ich könnte ein selbstoptimiertes Jahr hinlegen, es würde immer noch Bereiche meines Lebens geben, die nicht auf einer To-do-Liste stehen. Einige Bereiche und ein Organ. So weh das auch tut, ich finde diesen Gedanken irgendwie tröstlich.

Illustration: Thiago Kohl 

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