Entgegen den letzten Prognosen der englischen Buchmacher kurz vor dem Referendum haben sich die Menschen im Vereinigten Königreich nun also doch mehrheitlich dafür aussgesprochen, dass ihr Land aus der Europäischen Union austreten soll. Einige Tage vor diesem Referendum haben hier zwei Briten, die in Deutschland leben, über den Brexit gestritten – und über die Konsequenzen die er für Großbritannien und die EU haben dürfte. Diese Frage stellt sich jetzt, nach der Entscheidung, umso drängender. Robert Sleigh, der sich für den Brexit ausgesprochen hat, sieht in den Warnungen der Brexit-Gegner viel Daramatisierung und Panikmache. Für ihn ist ein Austritt ein Befreiungsschlag und eine Selbstbehauptung gegenüber einer EU, bei der er große demokratische Defizite sieht. Er dürfte am Morgen der Entscheidung bester Laune sein. Sein Kontrahent Daniel Tetlow hingegen ist vermutlich „not amused“. Er hegt große Befürchtungen bezüglich eines britischen Alleingangs. Gerade auch für Briten, die wie er als Expats im EU-Ausland leben, so wähnt er, wird das Leben dadurch komplizierter und schwerer werden.

Pro: im Geiste der Demokratie – go!

Robert Sleigh kann es gar nicht abwarten, dass sich sein Land aus der Europäischen Union verabschiedet. Er stammt aus Manchester, lebt aber seit über 30 Jahren in Berlin. Dort war er während der Wendezeit u.a. für die Los Angeles Times als Dolmetscher im Einsatz, arbeitet heute als Übersetzer und hat den Berlin Cricket Club mitgegründet. Robert sagt von sich, dass er früher mal ein überzeugter Befürworter der EU war. Warum er sich im Laufe der Jahre zum ihrem erklärten Gegner gewandelt hat und für den Brexit eintritt, verrät er hier.

Das Vereinigte Königreich (im Folgenden „Großbritannien“) trat 1973 in der ersten Erweiterungsrunde der Europäischen Gemeinschaft bei, die ursprünglich – als „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) – aus nur sechs Ländern bestand und im Grunde genommen als Freihandelszone effektiv funktionierte. Schon zwei Jahre später stand die Mitgliedschaft in dem Verbund zum ersten Mal auf dem Spiel. Doch eine Zweidrittelmehrheit der Briten sagte im Juni 1975 „Ja“ zur EG. Heute hat der Nachfolger „Europäische Union“ 28 Mitgliedstaaten, die zusammen genommen eine Bevölkerung von über 500 Millionen zählen. Und 19 dieser Staaten teilen eine gemeinsame Währung. Hört sich das nicht nach einer wahren Erfolgsgeschichte an?

Diese Entwicklungen wurden in Deutschland von der großen Mehrheit bis vor kurzem begrüßt. Für die Deutschen war die Mitgliedschaft in der EWG (Motto: „In Vielfalt geeint“) von Anfang an eine lebensnotwendige Frage, denn nach 1945 ging es vor allem darum, dass es nie wieder Krieg in Europa geben sollte. Die junge Bundesrepublik war bereit, auf wichtige Aspekte ihrer Nationalinteressen zu verzichten, um den Frieden in Europa sowie Wachstum und Wohlstand im eigenen Land zu sichern.

„Moloch mit undurchsichtigen, ineffizienten, kostspieligen und undemokratischen Machtstrukturen“

Die Briten wiederum hatten immer ein völlig anderes Verhältnis zu Europa und haben die EU nie als etwas Existenzielles gesehen. Großbritannien versuchte zwar schon 1961, Mitglied zu werden, doch der Versuch scheiterte am Veto Frankreichs. Seit seinem Beitritt im Jahre 1973 gehörte das Königreich dann nahezu ununterbrochen zu den Nettozahlern der Union, das kostete die Briten allein 2015 knapp elf Milliarden Euro. Bei der aktuellen Diskussion geht es aber, meiner Meinung nach, nicht um bloße Zahlen. Die EU ist inzwischen zu einem Moloch mit undurchsichtigen, ineffizienten, kostspieligen und scheinbar undemokratischen Machtstrukturen geworden: Zum Beispiel, die (nicht gewählte) Kommission, der Europäische Rat (der Staats- und Regierungschefs) und ein Parlament, das den Namen kaum verdient und ständig zwischen Brüssel und Straßburg pendelt und kein Recht hat, Gesetzentwürfe zur Abstimmung vorzulegen. Der „Vertrag von Lissabon“ über die Arbeitsweise der Europäischen Union, dessen deutsche Übersetzung mit 233 Seiten 16-mal länger als die Verfassung der USA ist, passt gut zu einer Organisation, die jedes Jahr Berge von Vorschriften produziert.

Inzwischen stammen über die Hälfte aller jährlich verabschiedeten und in Großbritannien gültigen Gesetze von der EU, ohne dass sie vom britischen Parlament bewilligt werden müssen. Und Großbritannien hat nicht das Recht, eigene Handelsabkommen mit wachsenden Volkswirtschaften wie Indien oder China zu unterzeichnen – für internationale Handelsabkommen ist allein die EU zuständig. Britische Brexit-Gegner sind, mit wenigen Ausnahmen, alles andere als begeisterte EU-Befürworter, denn bei ihnen steht die Angst vor den ungewissen Folgen eines Brexit an vorderster Stelle. Aber glaubt jemand noch wirklich, dass ein Austritt Großbritanniens beispielsweise zu einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Deutschland führen könnte? Die Rolle der EU als Garantin eines gesamteuropäischen Friedens scheint jedoch nicht erst seit dem Balkankrieg der 1990er-Jahre fragwürdig. Spätestens seit dem Ukrainekonflikt von 2014 ist an der expandierenden EU als Stabilisierungsfaktor in Europa zu zweifeln.

Die EU möchte immer größer werden, doch irgendwann sind die Grenzen des Möglichen erreicht. Wie so oft sind „größer“ und „besser“ zwei verschiedene Sachen. Das Projekt EU besteht darin, so kommt es mir vor, sich dauerhaft zu erweitern. Aus 28 sehr verschiedenen Staaten einen engen integrierten und effizienten Staatenverbund zu schaffen, der den Interessen aller Beteiligten gerecht wird, ist schwer genug – dazu sollen in den nächsten Jahren noch Albanien, Mazedonien, Montenegro, Serbien – und bislang zumindest formell auch noch die Türkei – der EU beitreten. Wenn man bedenkt, wie groß die kulturellen und innenpolitischen Unterschiede sind, erscheint jeder Versuch, eine halbwegs reibungslose Zusammenarbeit im Rahmen der EU zu etablieren, völlig hoffnungslos. Und wozu? Die Nationen Europas sind sehr unterschiedlich, und das ist auch gut so.

„Die gemeinsame Währung hat die Kluft vergrößert, statt die Länder einander näher zu bringen“

Trotz anfänglicher Begeisterung für die eher aus politischen als aus wirtschaftlichen Gründen eingeführte gemeinsame Währung Euro hat diese die Kluft zwischen dem wohlhabenden Nord- und dem ärmeren Südeuropa weiter vergrößert, anstatt die beteiligten Länder einander näher zu bringen. In Griechenland und Spanien sind Jugendarbeitslosigkeitsquoten von rund 51 bzw. 45 Prozent erreicht worden, während verarmte Rentner betteln gehen: sozialer Sprengstoff, der an die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg erinnert, auf einem Kontinent, wo rechte Parteien (zum Beispiel die rechtsextreme „Jobbik-Partei“ in Ungarn, der „Front National“ in Frankreich, die neonazistische Bewegung „Goldene Morgenröte“ in Griechenland oder die rechte polnische Partei „PiS – Recht und Gerechtigkeit“, die seit 2015 sogar an der Macht ist) längst wieder auf dem Vormarsch sind. Klar, auch im reichen Deutschland sind solche Tendenzen nun zu sehen.

Ich bin der festen Überzeugung, dass der Brexit zu einem „Neustart“ der politischen Prozesse sowohl innerhalb Europas als auch innerhalb des Vereinigten Königreichs führen kann – und muss. Denn Unzufriedenheit mit der EU scheint inzwischen keinesfalls eine rein britische Spezialität zu sein. Ich finde, Europa könnte innerhalb eines neuen und freiwilligen Verbundes unabhängiger Nationen eher prosperieren. In einem Verbund mit wesentlich weniger aufgeblähter Bürokratie und Regulierung, geprägt von transparenten, überschaubaren und wirklich demokratischen Strukturen. Dies wäre etwas völlig anderes als die EU. Bis sich ein solches neues Europa bildet, muss Großbritannien (und nicht nur Großbritannien) die EU verlassen. Deswegen: Vote Brexit, please. Ja zu Europa, nein zur EU!

Contra: ökonomisch und sozial – stay!

Daniel Tetlow hat in den vergangenen Wochen alles daran gesetzt, andere britische Expats davon zu überzeugen, gegen den Brexit zu stimmen. Er selbst ist vor Kurzem ist er mit seiner Partnerin aus London nach Berlin gezogen, wo die beiden Nachwuchs bekommen haben. Als EU-Bürger hatten sie es leicht, hier in den Genuss von Sozialleistungen für Familien zu bekommen. Aber das ist nur einer von vielen Gründen für Tetlow, sich mit großer Verve gegen den Brexit auszusprechen.

BRIT-SET, BRE-MAIN, BREX-IT? Interessieren wir uns wirklich dafür, was auf dieser kleinen, kalten, dunstigen Insel vor der französischen Küste passiert, die früher die Welt und mittlerweile, nun ja, nicht mehr viel regiert? Ähm, ja, wir interessieren uns dafür! Und diese Empfindung scheint von meinen deutschen und europäischen Freunden und Nachbarn in Berlin geteilt zu werden, die ihre Zeit geopfert haben, um mir dabei zu helfen, die Botschaft zu uns britischen Expats zu tragen, damit wir noch handeln, bevor der Brexit eine außerordentlich gefährliche Realität für uns alle wird.

Ich bin ein britischer Dokumentarfilm-Produzent, ein keltischer Geigenspieler und ein Vater, der in Berlin lebt. Meine Partnerin und ich sind erst vor kurzem von Großbritannien hierher gezogen, nachdem ich mehr als ein Jahrzehnt für die BBC in London gearbeitet hatte. Und ich bin als Brite anscheinend nicht allein in Berlin. In den vergangenen fünf Jahren hat sich die Zahl der Briten hier etwa verdoppelt. Als ich also begann, darüber nachzudenken, was ich für die Anti-Brexit-Kampagne tun kann, wurde mir klar, dass ich gerade hier, zu Hause in Berlin, einen sehr wichtigen Beitrag leisten kann.

„Verstehen die Briten, die für ein „Out“ stimmen, wirklich was auf dem Spiel steht?“

Tatsächlich ist es so: Sehr wenigen britischen Expats ist überhaupt klar, dass sie sich an der Wahl beteiligen können. Auch letztes Jahr bei den britischen Parlamentswahlen registrierten sich nur 106.000 von über fünf Millionen Briten überall in der Welt für die Briefwahl. Aber Großbritannien ist mit seiner kläglichen Wahlbeteiligung von Expats nicht alleine: Bei den Wahlen für den Deutschen Bundestag im Jahr 2013 meldeten sich laut Bundeswahlleiter nur 67.057 Auslandsdeutsche für eine Briefwahl an.

Doch das EU-Referendum unterscheidet sich von der nationalen Wahl. Selten hat irgendeine Abstimmung britische Expats stärker betroffen als das am 23. Juni anstehende Referendum. Allerdings gibt es da noch ein Problem: Wir Briten in Berlin können uns zumindest auf die deutsche und britische Post verlassen. Sie wird unsere Briefwahl sicher rechtzeitig zustellen. Was aber ist mit meinen Landsleuten, die in Papua-Neuguinea oder Timbuktu leben?

Jedenfalls hat eine Gruppe von Briten hier in Berlin beschlossen, über den Brexit bei einem Bier zu diskutieren. Das Treffen wurde auf einer Facebook-Seite veröffentlicht, und drei Tage später tauchten 250 Menschen in einem Pub in Berlin-Mitte auf – der Aufruf hatte offensichtlich einen Nerv getroffen. Nach diesem Treffen richteten ein paar von uns die unparteiische Webseite www.vote-eu-referendum.com ein, auf der Expats sich informieren können. Und die Angaben der britischen Wahlkommission (bis zum Stichtag am 7. Juni konnte man sich registrieren) zeigen: Die Zahl der Registrierungen von Expats hat sich für das kommende Referendum zumindest verdreifacht. Das ist also ein großartiger Anfang.

Und warum ist mir das alles wichtig? Nun, eine Dokumentation der BBC mit dem Titel „Driving on the Right“ („Fahren auf der rechten Seite“), die ich produziert habe, zeigt den Aufstieg der Rechtsaußen-Parteien in Europa. Und diese Parteien haben noch an Einfluss gewonnen. Wir leben in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit, eines Vertrauensverlusts in die Politik und der größten humanitären Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg. Ich habe keine Zweifel, dass ein Austritt Großbritanniens die Unsicherheit überall in Europa noch verstärken wird.

Die Geschichte lehrt uns – wie die Deutschen nur zu gut wissen – dass in solche Zeiten ein Erstarken von fanatisch-patriotischer Politik am rechten Rand droht. Meine Sorge ist, dass die Briten für ein „Out“ stimmen, weil sie nicht wirklich verstehen, was auf dem Spiel steht – und man es ihnen auch nie so richtig vermittelt hat. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen: Ich besitze keinen intuitiven Stolz, ein Europäer zu sein – und das ist etwas, was in frühem Alter einsetzt. In meiner Schulzeit in England war die Europäische Union nie ein Thema.

Hier seht ihr mich und meine Tochter Lucia, die dank des deutschen Gesundheitssystems letztes Jahr in der Charité in Berlin-Mitte geboren wurde. Lucia ist seit Januar ganztags in der Kindertagesstätte. Wir machen von dem gesetzlich garantierten Recht Gebrauch, dass in Deutschland jedem Kind ab dem vollendeten ersten Lebensjahr ein Kindergartenplatz zusteht.

Diese vom deutschen Staat subventionierte Kinderbetreuung kostet uns ungefähr 20-mal weniger als eine entsprechende Kinderbetreuung in London. In Großbritannien hätten die untragbaren Kosten dafür wahrscheinlich einen von uns beiden dazu gezwungen, zu Hause zu bleiben. Hier in Deutschland hingegen können meine Partnerin und ich wieder Vollzeit arbeiten. Ich bezweifle, dass sich das viele meiner Landsleute bewusst machen: Zwischen einer und zwei Millionen Briten, die als Expats in der Europäischen Union leben, erhalten dort mehr oder weniger umfangreiche familiäre Sozialleistungen, die allesamt bedroht wären, würde Großbritannien aus der EU austreten. Aber was ist mit den Briten, die in Großbritannien leben?

Mein verstorbener Großvater aus Yorkshire warnte mich gelegentlich vor dem Umgang mit Deutschen. Es sei zwingend erforderlich, dass sich die Schrecken des Krieges in Europa nie wieder ereignen. Natürlich stimmte ich nicht mit ihm überein, was die Zusammenarbeit mit den Deutschen anging – aber selbstverständlich in Bezug auf das oberste Ziel: Frieden in Europa. Die EU ist ein unfertiger Verbund von 28 Nationen, die darauf bestehen, dass man sich zusammensetzt und politische Probleme diskutiert, von denen die meisten nur multilateral gelöst werden können. Die EU hat den Friedensnobelpreis aus gutem Grund erhalten. Und das Argument vom Frieden in Europa greift für uns Expats in Deutschland ebenso wie für die Briten zu Hause. Besonders für die Generation der über 70-Jährigen, die Umfragen zufolge bei diesem Referendum immer noch den Zweiten Weltkrieg im Hinterkopf haben. Die Frage ist: in oder out?

Das Thema, auf das die „In“-Kampagne in Großbritannien voll und ganz gesetzt hat, ist die Wirtschaft. Vielen in Großbritannien ist nicht bewusst, dass die EU der größte (Absatz-)Markt der Welt ist, ja sogar größer als China und die USA. Nach Europa geht rund die Hälfte der gesamten britischen Exporte. Einleuchtend, dass die Regierung und auch die „In“-Kampagne davon ausgehen, dass eben dieses Thema die Wahl bestimmen wird. Denn in der Tat dürften die Auswirkungen eines Brexit auf das Leben und die Arbeitsplätze vieler Menschen groß sein.

Und die „Out“-Kampagne verfügt im Hinblick auf die wirtschaftlichen Auswirkungen eines Brexit wirklich nicht über befriedigende Antworten. Doch hört nicht nur auf mich, fragt auch unsere Verbündeten überall auf der Welt – die USA, Indien, China, Australien. Fragt jeden einzelnen unserer globalen Verbündeten, aber auch die Bank of England, den Internationalen Währungsfonds (IWF), die CBI (Konföderation der britischen Industrie), fünf ehemalige Nato-Generalsekretäre, den Generaldirektor des National Health Service (staatlicher britischer Gesundheitsdienst), ähm … soll ich wirklich weiter fortfahren? Aber die „Out“-Kampagne lässt mit ihrem Oberboss Michael Gove nur verlauten: „Holt euch die Kontrolle über unser Schicksal von den Organisationen zurück, die weit weg, undurchsichtig und elitär sind und keine britischen Interessen im Herzen tragen.“ Und das sagt der Lordkanzler und Justizminister Michael Gove, der Präsident der Oxford Union Society war. Da habe ich keine weiteren Fragen.

Es wird also eng, und politische Karrieren hängen von dem Ergebnis ab. Klar ist: Je mehr britische Expats und junge britische Menschen zum Wählen mobilisiert werden konnten, desto eher haben wir die Chance, ein starkes und wichtiges Mitglied jener losen Gemeinschaft von Nationen zu bleiben, die da EU heißt.

Aus der Reihe „Informationen zur politischen Bildung“ der bpb gibt es ein Heft über Großbritannien. Darin findest du gute Hintergrundinformationen, mit denen die Diskussion über den Brexit noch verständlicher wird. Zu empfehlen ist auch das Heft über Großbritannien aus der Reihe „Aus Politik und Zeitgeschichte“.

Außerderm zu empfehlen: Das neue Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung „Der Brexit und die britische Sonderrolle in Europa“.

Illustrationen: Renke Brandt