Der Fall der 43 entführten und vermutlich ermordeten Studenten im mexikanischen Bundesstaat Guerrero hat die Welt aufgerüttelt. Noch immer ist nicht aufgeklärt, was im September 2014 passiert ist. Der Fall ist nur einer von vielen, bei denen Menschen in Mexiko Opfer des Verschwindenlassens werden. Carlos Zazueta, Mexiko-Experte der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, beschäftigt sich mit diesen Verbrechen und hat für die Organisation den im Januar veröffentlichten Report „Treated with Indolence: The State’s Response to Disappearances in Mexico“ verfasst. Er glaubt: Das häufige Verschwindenlassen von Menschen wird weitergehen, solange die Verantwortlichen nicht mit Strafe rechnen müssen, wie es aktuell häufig der Fall ist.

fluter.de: Amtlichen Zahlen zufolge ist der Verbleib von mehr als 27.000 Personen in Mexiko unbekannt. Warum verschwinden so viele Menschen?

Carlos Zazueta: An den offiziellen Zahlen lässt sich nicht klar ablesen, wie viele Fälle vermutlich Verbrechen sind. Nicht klar ist ebenso, in wie vielen Fällen staatliche und nichtstaatliche Akteure involviert sind, und wie oft Menschen aus eigenem Willen untertauchen – auch das ist ja möglich. Die Regierung argumentiert, dass ein Großteil der Vermissten freiwillig verschwindet.

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Es bleibt nur ein Foto: Dieser Mann zeigt einen von über 27.000 Menschen in Mexiko, deren Verbleib ungeklärt ist.  (Foto: Dario Lopez-Mills/AP Photo)

Es bleibt nur ein Foto: Dieser Mann zeigt einen von über 27.000 Menschen in Mexiko, deren Verbleib ungeklärt ist.

(Foto: Dario Lopez-Mills/AP Photo)

Aber das glauben Sie nicht?

Nein, da überall im Land Leichen auftauchen. Letztes Jahr haben wir 10.000 Leichen gezählt, die die Behörden nicht identifizieren konnten. Bei 27.000 verschwundenen Menschen und 10.000 unidentifizierten Leichen kann man nicht behaupten, dass diese Leute mehrheitlich nur den Kontakt zu ihrer Familie abbrechen wollten. Das sind Verbrechen, die vor allem im Zusammenhang mit der organisierten Kriminalität im Drogenhandel stehen. Manchmal sind auch staatliche Organe involviert. Solange es so einfach ist in Mexiko, jemanden verschwinden zu lassen, ohne dass es Konsequenzen hat, wird es weiterhin passieren.

„Letztes Jahr haben wir 10.000 Leichen gezählt“

Inwiefern hat es keine Konsequenzen?

Bis auf sehr wenige Ausnahmen wird das Verschwindenlassen nicht bestraft. Wenn es irgendein Problem gibt, sagen wir im Drogenhandel oder ein politisches Problem, dann kann es günstig erscheinen, dieses Problem zu lösen, indem man jemanden verschwinden lässt. Niemand außer den Angehörigen wird ernsthaft versuchen, die Person zu finden.

Sind bestimmte Menschen besonders gefährdet, Opfer einer solchen „Problemlösungsstrategie“ zu werden?

Das mit letzter Sicherheit zu sagen ist schwierig, da die amtlichen Statistiken fehlerhaft sind. Es scheint, dass junge Männer zwischen 15 und 25 besonders oft Opfer des Verschwindenlassens werden. Es gibt aber auch viele weibliche Opfer, besonders in Fällen, die im Zusammenhang mit Menschenhandel stehen.

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cms-image-000048820.jpg (Foto: Dario Lopez-Mills/AP Photo)
(Foto: Dario Lopez-Mills/AP Photo)

Wann und wie hat es begonnen, dass so viele Menschen verschwinden?

Die ersten Fälle gab es Anfang der 70er-Jahre. Die waren politisch motiviert, in Lateinamerika war das in dieser Zeit üblich. Während der 90er-Jahre gab es deutlich weniger Fälle. Doch vor etwa zehn Jahren begann eine neue bundesstaatliche Strategie im Kampf gegen das organisierte Verbrechen, der „War on Drugs“ (Kampf gegen die Drogen). Seitdem nimmt das Verschwindenlassen wieder zu. Knapp die Hälfte der 27.000 Vermissten ist in den letzten Jahren unter der Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto verschwunden.

Was hat sich während seiner Regierungszeit geändert?

Das Problem ist, was sich nicht geändert hat. Er hat die Strategie des „War on Drugs“ fortgesetzt. Allerdings hat der Präsident zuletzt begonnen, diese Politik zu überdenken und zu korrigieren.

„Soldaten sollten ein Problem beseitigen, für dessen Lösung andere besser geeignet sind“ 

Wie genau führt die Strategie im Kampf gegen die Drogen dazu, dass so viele Menschen verschwinden?

Es war eine politische Entscheidung, dass auch die Armee und die Marine direkt gegen die Drogenkartelle vorgehen sollen. Soldaten sollten ein Problem beseitigen, für dessen Lösung andere besser geeignet sind. Sie sind Soldaten, keine Polizisten und erst recht keine Staatsanwälte. Sie sind nicht dazu ausgebildet, Verbrechen zu untersuchen, sondern dazu, das Land vor Feinden zu schützen. Wenn sie so jemanden losschicken, um sehr komplexe Verbrechen zu lösen, wird es Missbrauch geben.

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cms-image-000048821.jpg (Foto: Dario Lopez-Mills/AP Photo)
(Foto: Dario Lopez-Mills/AP Photo)

Amnesty International berichtet, dass die als vermisst Gemeldeten in vielen Fällen zuletzt gesehen wurden, wie sie von Polizei oder Militär festgenommen wurden. Was geschieht vermutlich in solchen Fällen?

Das ist schwierig zu beurteilen ohne die spezifischen Informationen zu einem Fall. Um ein Beispiel zu nennen: Im Norden Mexikos war es 2009 und 2010 üblich, dass die Polizei jemanden festgenommen hat und es wirkte wie eine normale, vielleicht etwas willkürliche Festnahme. Die Leute dachten, das Problem mit der Polizei könnten sie lösen, indem sie sich später einen Anwalt nehmen. Aber die Festgenommenen kamen niemals auf der Polizeistation an, weil sie an kriminelle Banden übergeben wurden. Eine andere Möglichkeit in einem solchen Fall ist, dass die Festgenommenen gefoltert wurden, um von ihnen Informationen über Verbrechen vor Ort zu bekommen. Es wurde dabei womöglich nicht mal angenommen, dass sie selbst kriminell sind, sondern nur, dass sie mitbekommen, was passiert. In solchen Fällen tauchen später nur ihre Leichen auf, die Spuren von Folter tragen.

Polizei und Militär sind in manchen Fällen also involviert?

Unserer Einschätzung nach ist es ziemlich üblich, dass beim Verschwinden von Personen staatliche Organe zu einem gewissen Grad involviert sind. Manchmal direkt, wie bei den Festnahmen. Manchmal indirekt, weil sie wissen, dass an einem Ort Menschen durch kriminelle Organisationen verschwinden, aber nichts unternehmen, um weitere Fälle zu verhindern. Außerdem ist es in jedem Fall ihre Aufgabe, diese Verbrechen zu untersuchen, so dass die Verantwortlichen vor Gericht kommen.

„Die Leute verlassen nachts nicht mehr das Haus, sie gehen am Wochenende nicht mehr mit Freunden trinken“

Wie beeinflusst das massenhafte Verschwinden von Personen das Leben der Menschen in Mexiko?

Es kommt auf die Region an. In manchen Teilen Mexikos haben die Leute so viel Angst, dass sie ihr Leben ändern, um Risiken zu minimieren. Sie verlassen nachts nicht mehr das Haus, sie gehen am Wochenende nicht mehr mit Freunden trinken. Und sie fahren im Dunkeln nicht mehr mit dem Auto von einer Stadt zu einer anderen. Denn das könnte verdächtig wirken, auf die Kriminellen und auf die Behörden, die sie anhalten würden und vermuten könnten, dass sie mit dem organisierten Verbrechen zu tun haben. An anderen Orten, an denen nicht so viele Menschen verschwinden, haben die Leute ihr Leben nicht groß geändert. Aber sie demonstrieren zusammen mit den Familien der Opfer und stellen die Politik der Regierung in Frage.

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cms-image-000048822.jpg (Foto: Dario Lopez-Mills/AP Photo)
(Foto: Dario Lopez-Mills/AP Photo)

Was passiert, wenn Angehörige zur Polizei gehen und jemanden als vermisst melden?

Üblicherweise wird ihr Anliegen von der Polizei erstmal ignoriert. Die Polizei lässt sich Zeit, einen Bericht zu schreiben und die Suche nach dem Vermissten zu beginnen. Oft bis zu drei Tage lang, dabei sollte sie augenblicklich starten, sonst sind die Chancen gering, die Person zu finden. Außerdem findet die Suche oft nur auf dem Papier statt. Es kommt auch manchmal vor, dass Behörden behaupten, Opfer seien kriminell gewesen oder in gewisser Weise selbst schuld: etwa dass jemand zum Drogenkartell gehört hat oder mit Kartellmitgliedern befreundet war. Diese Behauptungen entbehren oft jeder Grundlage. Aber sie beschämen und verletzen die Angehörigen und können dazu führen, dass die Familien aufhören, nach dem Opfer zu suchen und Gerechtigkeit einzufordern.

„Das Verschwinden der Studenten hängt mit anderen Verbrechen zusammen“

Der Fall der 43 Lehramtsstudenten, die im September 2014 verschwunden sind, hat die ganze Welt aufgerüttelt. Die internationalen Experten, die die Untersuchung dieses Falls begleiten, beklagen, dass die Regierung den Zugang zu neuen Informationen begrenzt, und haben die Zusammenarbeit mit der Regierung mittlerweile aufgekündigt. Was genau passiert da?

Wenn beispielsweise die Staatsanwaltschaft Angehörige des Militärs befragt, dürfen sie nicht dabei sein. Auf Informationen, die das Militär über die Nacht der Tat hat, dürfen sie nicht zugreifen. Dazu kommt, dass es eine extrem komplexe Untersuchung ist: Das Verschwinden der Studenten hängt mit anderen Verbrechen zusammen. Aber zu den Ermittlungen in diesen Fällen bekommen die Experten keinen Zugang. Die Ermittler erklären, dass diese Fälle nicht mit dem Verschwinden der Studenten verbunden seien und sie deshalb offiziell nicht zur Untersuchung gehören.

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cms-image-000048823.jpg (Foto: Dario Lopez-Mills/AP Photo)
(Foto: Dario Lopez-Mills/AP Photo)

Wie oft tauchen Verschwundene wieder auf?

Es kommt darauf an. Wenn sie nicht freiwillig untergetaucht sind, nur in einem kleinen Prozentsatz der Fälle. Die meisten kehren nicht zurück. Und wenn sie wiederauftauchen, sind sie tot.