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„Wir können viel von Handwerkern lernen“

Wer entscheidet, was wir wissen müssen? Warum ist gebildet, wer weiß, was er nicht weiß? Und was machen Schulen falsch? Ein Gespräch mit der Bildungswissenschaftlerin Prof. Rita Casale

Wissen

fluter.de: Sie beschäftigen sich viel mit Bildung. Sind Wissen und Bildung eigentlich dasselbe?

Rita Casale: Nein. Bildung hat stattgefunden, wenn man durch das angeeignete Wissen einen eigenen Zugang zur Welt gefunden hat. Und das setzt immer eine spezifische Form der Erfahrung voraus. Hier ist die deutsche Sprache interessant. Das Wort Erfahrung bezeichnet ja sozusagen eine besonders intensive Fahrt oder Reise. Heißt: Wenn man davon zurückkehrt, ist man nicht mehr dieselbe Person, etwas ist mit einem passiert. Und das ist dann auch die Art von Wissen, die hängen bleibt. Das muss nicht unbedingt innerhalb von Schule, Uni oder Ausbildungsbetrieb passieren, solche Erfahrungen kann man auch in anderen Lebensbereichen machen.

Woran merken Sie als Professorin, ob Ihre Studenten eine solche „Erfahrung“ gemacht haben?

Wenn ich in ein Seminar komme und feststelle: Es liegt was in der Luft. Etwas, das ich den Leuten vermittelt habe, hat sie erwischt. Die Studierenden fangen an, tiefgründigere Fragen zu stellen. Oder wenn ich eine Arbeit von einem Studierenden lese und merke: Da hat sich jemand Gedanken gemacht, wie er diesen Text komponiert. Vielleicht ist dann nicht alles korrekt – aber es hat eine Auseinandersetzung begonnen.

„Es ist eine Legende, dass junge Menschen nicht bereit sind, sich mit komplexen und abstrakten Inhalten auseinanderzusetzen“

Wer entscheidet eigentlich, welches Wissen heute im Unterricht wichtig ist?

(lacht) Es gibt kein Zentralkomitee, das darüber entscheidet. Schulpolitik ist in Deutschland größtenteils Ländersache. Seit längerer Zeit gibt es eine Auseinandersetzung zwischen denjenigen, die eine konservative Position vertreten und die immer noch den alten Bildungskanon mit bestimmten Klassikern verteidigen, und anderen, die eher modernistische oder reformpädagogische Positionen vertreten, die jegliche Kanonisierung abschaffen wollen. Ich glaube, dass beide Positionen falsch sind. Denn ich finde, die Jugendlichen sollten in der Schule auf jeden Fall mit etwas herausgefordert werden, mit naturwissenschaftlichen ebenso wie mit literarischen Texten. Es ist bedauerlich, dass es über einen neuen, zeitgemäßen Kanon kaum Debatten gibt. Wenn wir das nicht diskutieren, entscheiden die Schulbuchverlage für uns.

Das wirklich wichtige Wissen ist also dasjenige, das Menschen herausfordert oder sogar überfordert?

Ich glaube, es ist eine Legende, dass junge Menschen nicht bereit sind, sich mit komplexen und abstrakten Inhalten auseinanderzusetzen. Dieses Alter war für mich die intensivste Bildungszeit, da war ich besonders neugierig. Wichtig ist, Texte zu finden – und das können auch Klassiker sein –, die auch experimentell sind. Denn in Bildungsprozessen ist wichtig, dass die Form etwas transportiert. Das bringt die Leute dazu, die Perspektive einzunehmen von jemandem, der nicht mehr nur Rezipient ist. Sie beginnen, sich zu fragen: Hättest du den Text auch so komponiert? Ich denke, man sollte heute einen neuen Bildungskanon finden, der das mehr berücksichtigt und den Themen unserer Zeit entspricht.

Special: Wissen

Weißt du was? Hier liest du weitere Artikel aus unserem Wissen-Schwerpunkt (Foto: Renke Brandt)

Über die Frage, welches Wissen der Gesellschaft wie viel bedeutet, wird seit Beginn der Corona-Pandemie vermehrt diskutiert. Die Forderung wurde laut, das Wissen und die Leistungen von Praktikern wie Krankenpflegern mehr zu honorieren. Stimmen Sie dem zu?

Aber ja. Pflegekräfte sind Professionelle. Und die Wissensform, die professionelle Menschen charakterisiert, ist immer die Fähigkeit, etwas Allgemeines auf einen konkreten Fall anzuwenden. Die Ausbreitung des Coronavirus hat uns vor Augen geführt, dass verschiedene Formen von Professionalität und Wissen ungeheuer relevant sind – dass diese Bereiche besser finanziert und die Menschen noch besser ausgebildet werden müssen. In Bezug auf das Thema Wissen war Covid-19 für mich aber noch in anderer Hinsicht sehr interessant.

In welcher?

Die Naturwissenschaften, in diesem Fall die Virologie, haben eine unglaubliche Präsenz erhalten. Das sind Themen, die normalerweise nicht groß stattfinden in den Medien. Ich fand sehr gut, wie man es auch mit neuen medialen Formen wie Podcasts geschafft hat, komplexes wissenschaftliches Wissen einer größeren Öffentlichkeit zu vermitteln.

„Niemand besitzt die Wahrheit. Worauf es ankommt, ist, dass die methodologischen Verfahren nachvollziehbar sind. Das unterscheidet Wissenschaft von Glauben“

Es gab aber auch viel Kritik, unter anderem daran, dass verschiedene Forscher zu unterschiedlichen Aussagen und Empfehlungen gekommen sind.

Es war eine Gelegenheit, der Öffentlichkeit zu zeigen, dass Kontroversen und Dissens zur Wissenschaft gehören und dass ebendies ihre Stärke ausmacht. Sie ist nichts anderes als die methodische Suche nach der Wahrheit. Niemand besitzt die Wahrheit schlechthin. Worauf es ankommt, ist, dass die methodologischen Verfahren nachvollziehbar sind. Das unterscheidet Wissenschaft von Glauben. Zudem hat die Coronakrise meines Erachtens eher zu einer Aufwertung von neuen Wissensformen geführt, die auf Kooperation und interdisziplinärer Zusammenarbeit basieren. Ärzte, Naturwissenschaftler, Geisteswissenschaftlerinnen, Sozialwissenschaftler, Krankenpfleger, Politikerinnen – alle mussten zu einem gemeinsamen Weg finden. Entgegen dem neoliberalen Mantra, wonach nur harte Konkurrenz das Geschäft belebt.

Die Menschheit verfügt in vielen Bereichen über so viel Wissen wie wohl nie zuvor. Warum hilft uns das nicht noch mehr dabei, die Welt zu einem besseren Ort zu machen?

Im Grunde teile ich diese Sichtweise: Es reicht nicht, wenn wir uns ein bestimmtes Wissen aneignen, wir sollten es auch in Gestaltungsprozesse übersetzen, die unsere Lebensbedingungen verbessern. Einschränkend muss ich aber sagen: Das Schicksal der Menschheit liegt nicht allein in den Händen von einzelnen Individuen, die sich bilden. Es geht auch um größere Strukturen, an die man rangehen muss: die kapitalistische Ordnung, in der Wachstum und Profitmaximierung handlungsleitend sind. Darin gibt es mächtige Lobbys, die ihre Interessen verteidigen – auch wenn dadurch eine weitreichende ökologische Zerstörung fortgesetzt wird. Doch auch dazu gab es eine wichtige Erkenntnis in der Corona-Zeit: dass sich klare wissenschaftliche Ergebnisse auf Dauer nicht ausklammern lassen.

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Rita Casale

Rita Casale, 52, hat in Italien, Frankreich und Deutschland studiert und ist heute Professorin für Theorie der Bildung an der Bergischen Universität Wuppertal.

Es heißt heute oft, die Welt sei zu komplex geworden, als dass wir sie noch verstehen könnten. Wie sehen Sie das?

Das Mantra von der Komplexität kann zu einer Ausrede werden, warum wir unser Nichtverstehen angeblich akzeptieren müssten. Sicher, die Welt ist komplex. Aber die Wissenschaft und das Wissen selbst sind auch komplexer geworden. Sie sollten uns dazu verhelfen, einen Zugang zu dieser Komplexität zu erschließen.

Gibt es auch einfache Wahrheiten? Was ist etwa mit der zentralen Botschaft der Fridays-for-Future-Bewegung: Die Menschheit produziert zu viel Klimagase, wir müssen unseren Lebensstil radikal ändern.

Ich würde nicht sagen, dass diese Dinge einfach sind. Aber ich glaube, dass es die Aufgabe der Wissenschaft ist, klar zu sprechen. Sie sollte in der Lage sein, komplexe Sachverhalte nicht zu vereinfachen, aber deutlich zu erklären. Was sie bezüglich des Themas Klimawandel ja auch tut. Komplexität darf kein Vorwand sein, um bestimmte Zusammenhänge zu verblenden. Und Bildung bedeutet deshalb heute auch, urteilsfähig zu werden und Zusammenhänge zu erkennen. Zum Beispiel, was eine spezifische Form der Wirtschaftsorganisation mit dem Klimawandel zu tun hat. Es geht also darum, Komplexität nicht zu reduzieren, sondern klar, stringent und logisch zu argumentieren.

Die Wissenschaft ist heute in hochspezialisierten Fachbereichen organisiert, die sich jeweils nur mit kleinen Ausschnitten der Realität befassen. Besteht die Gefahr, dass wir den Gesamtüberblick verlieren? Droht Expertenblindheit?

In der Tat ist der „Experte“ die moderne Figur des Wissenschaftlers als desjenigen, der über ein sehr spezialisiertes Wissen verfügt. Es gibt aber noch eine andere Figur, die ich für sehr notwendig halte und die nicht unbedingt das Gegenteil des Experten sein muss – jemand, der in der Lage ist, sich auch jenseits der Expertise zu bewegen. Das ist die Figur des Intellektuellen. Wir brauchen heute Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, aber auch Menschen aus dem öffentlichen Leben, die Zusammenhänge analysieren. Die Schule und die Universitäten sollten diese Beschäftigung mit Zusammenhängen und den Blick über den fachlichen Tellerrand hinaus vermitteln.

„Jemand, der meint, alles zu wissen, kann kein Gebildeter sein“

Wie könnte das ablaufen?

Ich halte es für problematisch, wie die Lehre an der Universität seit der Bologna-Reform organisiert ist: dass zuerst der Bachelor kommt, der überwiegend berufsqualifizierend ausgerichtet ist, und dann ein Master draufgesetzt werden kann, der den Zugang zur Wissenschaft ermöglicht. Ich bin für den umgekehrten Weg: zuerst die allgemeine Bildung, dann die berufliche Ausbildung. Denn wir brauchen Studenten und Studentinnen, die sagen: Okay, das ist das ganze Spektrum der Problematik – und innerhalb dessen möchte ich mich jetzt um genau diesen und jenen Punkt kümmern. Man sollte deshalb mit dem Allgemeinen beginnen und dann zum Konkreten kommen. Ebenso brauchen wir eine Schule, die Schüler und Schülerinnen befähigt zu erkennen, welcher Zusammenhang sie interessiert – und sich dann die Texte rauszusuchen, mit denen sie das vertiefen können.

Mal provokant gefragt: Lieber gar kein Wissen als Halbwissen in einem bestimmten Bereich?

(lacht) Weder noch! Wichtig ist meines Erachtens erst mal, dass wir zu einer guten Haltung finden gegenüber der Welt, über die wir etwas wissen wollen. Wir können viel von den Handwerkern lernen. Denken Sie an einen Schreiner oder einen Goldschmied. Der hat ein unglaublich präzises Wissen. Er weiß genau, dass er bei der Bearbeitung eines Gegenstandes den Besonderheiten des Stoffes und seiner Form gerecht werden muss. Man kann das meines Erachtens auf die Sphäre der geistigen und akademischen Arbeit übertragen. Auch da wird sich ja mit „Stoff“ beschäftigt, mit Wissensstoff. Auch dessen Besonderheiten muss man gerecht werden und sich erst mal darauf einlassen. Um etwas zu begreifen, muss man sich persönlich und seine Voreinstellungen zurücknehmen. Der Philosoph Adorno sprach vom „Vorrang des Objekts“.

Heißt das: Ich muss mir erst mal auch klar eingestehen, was ich alles nicht weiß?

Das ist ein zentraler Aspekt von Bildung heute: zu wissen, was man alles nicht weiß. Das ist der Ausgangspunkt eines jeden Bildungsprozesses. Die Erfahrung, dass mir etwas unbekannt, fremd und nicht vertraut ist. Jemand, der meint, alles zu wissen, kann kein Gebildeter sein und werden.

Dennoch: Politisch stellt sich die Frage, wie der Zugang zu Bildung und Wissen gestaltet werden soll. Wie steht es in Deutschland um die Bildungsgerechtigkeit?

Dass die Qualität der Bildung, die ein Kind erhält, immer noch stark gekoppelt ist an seine soziale Herkunft, ist empörend. Das hat verschiedene Gründe. Zugrunde liegt dem die Trägheit des Systems. Seit Jahrzehnten versucht man, diese Strukturen aufzubrechen, aber scheitert an bestimmten politischen Interessen, das dreigliedrige Schulsystem weiterhin aufrechtzuerhalten. Dabei ist Schule einer der wenigen Orte, an denen es die Möglichkeit gäbe, Kinder aus unterschiedlichen Kontexten mit allgemeinen Themen, mit allgemeinem Wissen in Kontakt zu bringen. Leider sehe ich nicht, dass die Schule in Deutschland diesem Auftrag gerecht wird.

Titelbild: Kostis Fokas

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