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Opa, der Mörder

Weil immer mehr Menschen wissen wollen, ob Familienangehörige an Verbrechen der Nazis beteiligt waren, bearbeiten die Archive Tausende von Anfragen. Über eine Enkeltochter, die in den Unterlagen eine Geschichte fand, die zu Hause nie erzählt wurde

Opa, Nazi

Am Rand der Freiburger Innenstadt ragt, umrandet von einem Sicherheitszaun, ein elfstöckiges Gebäude in die Höhe, in dem kilometerweise Akten lagern – die so manche Familienfeier verderben könnten. Was hat Opa im Krieg gemacht? War Oma wirklich nur eine normale Krankenschwester? Ist Papa bei der SS gewesen? Mit etwas Glück finden sich die Antworten sauber abgeheftet in einem der Bundesarchive, die die militärischen Unterlagen der preußischen und deutschen Streitkräfte bis 1949 verwahren.

Vor etwa 15 Jahren, sagt Thomas Menzel vom Bundesarchiv in Freiburg, sei man davon ausgegangen, dass die Zahl der Anfragen, die sich auf die Zeit bis 1945 beziehen, allmählich zurückgehen würde. Stattdessen wurden es immer mehr: „Wir hatten einen Zuwachs von ein bis zwei Prozent pro Jahr. 2020 waren es dann 30 Prozent.“ Inzwischen bearbeiten die Archivare etwa 13.000 Anfragen pro Jahr. Die Hälfte seien solche nach einer bestimmten Person, der Rest beziehe sich zum Beispiel auf bestimmte Wehrmachtseinheiten oder einzelne Kriegsereignisse.

„Der Klassiker ist, dass die Soldaten irgendwelche Geschichten erzählten, um etwas zu verschleiern“

Es sind vor allem Familienangehörige, Kinder, Enkel, Urenkel, die auf der Suche nach der Wahrheit sind, aber auch Hobbyforscher. Das gehe bei der 14-Jährigen los, die eine Arbeit für die Schule schreibt, so Menzel, und ende beim 90-Jährigen, der die eigene Personalakte anfordert. In allen neun Dienststellen des Bundesarchivs gehen etwa 50.000 Anfragen jährlich ein, bei denen es um die NS-Vergangenheit von Familienmitgliedern geht, schätzt die Pressestelle.

Die Freiburger „Abteilung Militärarchiv“ verwahrt unter anderem Personalakten der Offiziere des Heeres und der Luftwaffe der Wehrmacht, Kriegstagebücher oder Unterlagen über militärische Auszeichnungen. „Der Klassiker ist“, sagt Menzel, „dass die Soldaten nach ihrer Rückkehr irgendwelche Geschichten erzählt haben, um sich interessanter zu machen oder etwas zu verschleiern.“

Vor 13 Jahren fährt Gabriele Palm-Funke mit ihrer Mutter in deren frühere Heimat in Polen. Beim Abendessen sprechen sie dort über den verstorbenen Großvater. Die Mutter erwähnt seinen „Einsatz“ in einem Lager in der Nähe von Katowice. Dann sagt sie einen Satz, der Palm-Funke aufhorchen lässt. Als sie ihren Vater in diesem Lager bei der Arbeit besucht habe, seien da „die vielen Menschen mit den Sternen“ gewesen, die sie „nie vergessen“ werde. Gemeint waren die Juden, die in der Nazizeit mit dem sogenannten Judenstern gekennzeichnet wurden. „Dann war der ja ein Mörder“, sagt Palm-Funke zu ihrer Mutter. Die fragt nur: „Woher willst du das wissen?“ Damit ist das Gespräch für eine lange Zeit beendet.

Als ihre Mutter den Großvater bei der Arbeit besuchte, seien da „die vielen Menschen mit den Sternen“ gewesen

Palm-Funke hat ihren Opa als Kind täglich gesehen. Morgens vor dem Kindergarten parkte sie ihr Fahrrad in seiner Werkstatt, und nachmittags holte sie es dort wieder ab. Schweigsam sei er gewesen, sagt sie. „Ein typischer Kriegsheimkehrer. Er hat nicht viel mit mir gesprochen.“ Als der Opa stirbt, hört die damals zehnjährige Gabriele bei der Beerdigung zum ersten Mal, dass ihr Opa ein Nazi gewesen sein soll. Einige Leute aus dem Dorf bleiben der Trauerfeier wohl deshalb fern. Doch bis sie erwachsen ist, wird über das Thema nicht mehr gesprochen, auch sie selbst vergisst es mit der Zeit. Bis zu jenem Abend in Polen.

Als Palm-Funke von der Reise mit ihrer Mutter zurück nach Leipzig kommt, beginnt sie zu googeln. Sie findet: nichts. „Da dachte ich: Meine Güte, das kriegst du nie raus.“ Wie sollte sie das Lager finden, in dem ihr Großvater Wachmann war? Schließlich schreibt sie an das Bundesarchiv in Berlin. Sie nennt Name, Geburtsdatum und damalige Wohnorte des Großvaters. Zurück kommt die Abbildung einer Erkennungsmarke: Ihr Opa war bei der Polizei. Über seine Tätigkeit als Wachmann in einem KZ oder eine mögliche Funktion bei der SS weiß man in Berlin aber nichts. Palm-Funke wird nach Ludwigsburg verwiesen. Dort archiviert eine Außenstelle die Unterlagen der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“.

„Vielleicht war ja doch nichts“, denkt sie damals und schiebt das Thema wieder beiseite – doch es lässt sie nicht los. Ein paar Jahre später schreibt sie tatsächlich nach Ludwigsburg. Von dort erhält sie eine Liste mit Aktenzeichen und Hinweise auf zwei Bücher. Eines davon ist der Bericht des jüdischen Holocaust-Überlebenden Erich Altmann: „Im Angesicht des Todes“. In diesem Buch ist ihrem Opa ein ganzes Kapitel gewidmet. Ein „Tier in Menschengestalt“ steht da.

Ein Tier in Menschengestalt, so hatte ein Überlebender ihren Großvater genannt, der für seine Brutalität berüchtigt war

Der Mann, in dessen Schuppen sie als Kind ihr Fahrrad parkte, war im Lager Trzebinia „Oberwachtmeister Luboeinski“, dessen Grausamkeiten der Überlebende Altmann ausführlich schildert. Mal habe Luboeinski den Häftlingen bei der Arbeit mit der Schaufel auf den Kopf geschlagen, dann wieder mit den schweren Stiefeln in die Geschlechtsteile getreten. Eine Passage beschäftigt Palm-Funke besonders: Einmal habe ihr Opa einem 17-Jährigen befohlen, einen Stein zu holen, der jedoch außerhalb des Lagers lag. Als der Junge den Befehl ausführte, erschoss ihn Oberwachtmeister Luboeinski, weil er versucht habe, zu fliehen.

„Mein Großvater war ja nichts Besonderes in der Hierarchie“, sagt Palm-Funke heute, „aber grausam genug war er.“ In diesem Satz deutet sich die Schwierigkeit der Suche nach der Wahrheit nach so langer Zeit an. Denn nicht immer sagt ein bestimmter Dienstgrad, der Name einer Kompanie oder die bloße Anwesenheit an einem bestimmten Ort etwas darüber aus, was der Einzelne getan hat. „Sie können einen Opa haben, der war vielleicht Offizier bei der Waffen-SS und die ganze Zeit an der Ostfront. Das heißt nicht automatisch, dass er zum Verbrecher geworden ist. Die Wahrscheinlichkeit ist in diesem Fall sehr hoch, es muss aber nicht sein“, sagt Thomas Menzel vom Militärarchiv Freiburg. „Wenn Ihr Opa umgekehrt als Unteroffizier in der Küche eines Heeresverbandes war, kann er trotzdem ein Vergewaltiger und Mörder gewesen sein.“ Mit diesen Unsicherheiten müsse man leben, sagt Menzel. Oder man entscheide sich, weiter und weiter zu graben.

Gabriele Palm-Funkes Akteneinsicht in Ludwigsburg ist inzwischen fast vier Jahre her – aber ihre Suche ist noch nicht beendet. Wie wurde der Großvater vom Polizisten zum Wachmann? War er Mitglied bei der SS? Beides will sie noch herausfinden. „Ich will es verstehen, und ich will es aufschreiben und weitergeben. An meinen Sohn, an Nichten und Neffen“, sagt sie. „Es ist wichtig, zu zeigen, wie die eigene Familie drinsteckte. Für mich ist eine zentrale Frage: Wie ist er so geworden?“

Wieso wird der eigene Opa zum Mörder? Und wieso wurden es andere nicht? In Erich Altmanns Buch taucht noch ein anderer Mann auf, der auch Oberwachtmeister war und der als hilfreich und menschlich geschildert wird. Einer, der nicht brutal war, einer, der den Häftlingen sogar Medikamente besorgte, wenn es ihnen schlecht ging.

Palm-Funke will auch noch einmal mit ihrer Mutter über den Großvater sprechen. Die war sechs Jahre alt, als ihr Vater im Lager in Trzebinia Menschen quälte. Jetzt ist sie 84. Das Buch mit dem Kapitel über ihren Vater hat sie bis heute nicht gelesen.

Illustration: Eugen Schulz

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.