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Ich & mein Kleid

Eigentlich erstaunlich, wie selten Männer luftige Frauensachen tragen. Und was passiert, wenn sie es tun

  • 5 Min.
Mann im Kleid

Ich habe eine neue Lieblingsklamotte. Sie ist knallbunt, weit ausgeschnitten, liegt eng an den Hüften an und reicht mir bis knapp unters Knie. Meine Freundin Mina hat sie vor ein paar Jahren auf einem Trödelmarkt in Riga gekauft und mir geschenkt. Mein Kleid.

Vor einem Jahr hat das angefangen: Kleidertragen. Flucht in die Ästhetik nach jahrelangem Stilgedümpel in pragmatischer Hipstercamouflage, bestehend aus: weißen Sneakern, schwarzer Jeans, weißem T-Shirt, rotem Käppi. Cocktail, Chiffon, Etui – was hatte ich meine Freundinnen um ihre Kleider beneidet und mich doch nie getraut. Für das neue Outfit gab es keinen Anlass, kein Statement und dahinter schon gar keinen Plan zur Zerschlagung des Patriarchats. Ich wollte bloß eins: schön sein.

Natürlich war es kein Zufall, dass mein erstes Kleid in die Zeit fiel, in der ich nach einem Vierteljahrhundert auf dieser Welt das erste Mal Männlichkeit kritisch zu hinterfragen begann: Wann war ein Mann ein richtiger Mann? Und bald darauf: War ich denn überhaupt einer?

Nicht auf Familienfotos, nicht auf der Straße, nicht bei Zalando: Wo sind sie, die Männer mit Kleid?

Ein Mann, so wie ich es gelernt hatte, war ein Mensch, der seinen Kumpels bei der Begrüßung dreimal fest auf den Rücken schlug, um den Anschein von Zärtlichkeit zu vermeiden. Der auf die Frage „Wie geht’s dir?“ seinen bisherigen Tagesverlauf schilderte. Der in der S-Bahn die Beine so weit spreizte, als gehörte ihm der ganze Waggon. Ein Mann weinte nicht (und wenn, dann nur vor Freundinnen), und ein Kleid trug er schon gar nicht.

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Mann im Kleid
Unser Autor kombiniert sein Kleid am liebsten mit schmutzigen Sneakern

Dabei gab es eine Zeit, in der nicht in erster Linie das Geschlecht die Kleidung bestimmte. Bis ins 18. Jahrhundert war sie zuallererst Ausdruck der Standeszugehörigkeit. Und während Zweckmäßigkeit und Nüchternheit den Stil des aufsteigenden Bürgertums prägten, stellte der Adel den Luxus zur Schau: Man trug Perücken, Röcke und hohe Schuhe. Ganz gleich, ob Mann oder Frau. Doch über Jahrhunderte veränderte sich die Kleiderordnung kontinuierlich. Sie diente jedoch stets dem Erhalt bestehender Machtverhältnisse.

Und diese veränderten sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts, als sich das Bürgertum gegen den Adel auflehnte und schließlich durchsetzte. „So wurde mit dem Adel auch dessen Kleidung abwertend feminisiert, das Bürgertum sowie seine Lebensführung und Moral wurden hingegen als männlich definiert und idealisiert“, schreibt die Schweizer Geschlechterforscherin Michela Seggiani. Das Bürgertum schuf dadurch ein unverrückbares Zwei-Geschlechter-Modell, in dem Mann Frau, vermeintlich von Natur aus, überlegen war. Männlichkeit definierte sich fortan über Arbeit und Verstand. Weiblichkeit über „das Mindere“. Und um beides zu unterscheiden, trug Mann Hose und Frau Kleid. Erdachte Geschlechterrollen, geronnen in der Mode der Zeit.

Gut 200 Jahre später. Bei meiner Mutti zu Hause an der Wohnzimmerwand hängt seit Kurzem eine Collage von Kinderfotos meiner jüngeren Schwester und mir: zwei pausbäckig grinsende Rotschöpfe, die Fremde gut und gern für Zwillinge halten könnten. Die sich optisch durch fast nichts unterscheiden – außer ihrem Style: Sie trägt Dirndl und Baumwollkleidchen und dann und wann eine Hose. Ich trage Cordhosen, Lederhosen, kurze Hosen, gelbe Hosen, Schneeanzug. Auf keinem Bild trage ich ein Kleid.

Frauen hatten sich im vergangenen Jahrhundert das Recht erkämpft, zu wählen, waren an die Universitäten geströmt und in die Politik. Sie hatten dafür gekämpft, Hosen tragen zu dürfen, und spätestens mit Coco Chanel wurde das auch en vogue. Und Männer? Waren Männer geblieben. Als hätten sie seit 1800 nichts anderes versucht, als die Emanzipation der Frauen zu verhindern – anstatt sich um die eigene zu scheren. Wo waren sie, die Männer mit Kleid? Ich suchte sie – ich fand sie nicht. Nicht auf der Straße, nicht im Film und auch nicht in der Suchmaske bei Zalando.

„Weibliche Kleidung hat absolut kein soziales Kapital für einen Mann, weil sie eine Reihe von Eigenschaften verkörpert, die unsere Gesellschaft geringschätzt“, sagt Marjorie Jolles, Associate Professor of Women’s and Gender Studies an der Roosevelt University in Chicago. „Ein Mann, der die Codes einer unterdrückten Klasse nachahmt, ist vor allem eines: lächerlich.“

„Wenn Frauen Hosen tragen, ist das powerful, dann ist das stark, gesellschaftlich akzeptiert. Wenn aber ein Mann ein Kleid anzieht …“

So war auch der Schauspieler und Musiker Billy Porter vor Hohn nicht gefeit, als er bei der Oscarverleihung 2019 mit einem ausgefallenen Smokingkleid aus schwarzem Samt über den roten Teppich stolzierte. Prompt schrieb der Moderator Piers Morgan auf Twitter: „Darf ich sagen, dass das absolut lächerlich aussieht?“

Billy Porter antwortete darauf später in Stephen Colberts „Late Show“: „Wenn Frauen Hosen tragen, dann ist das powerful, dann ist das stark, gesellschaftlich akzeptiert, und es ist mit dem Patriarchat und Männlichsein assoziiert. Wenn aber ein Mann ein Kleid anzieht, dann ist das widerlich. Was sagst du mir damit: Männer sind stark – Frauen sind widerlich?“

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Mann im Kleid
Mann oder Nichtmann, Mitläufer oder Deserteur: Ein Kleid lässt Mann die Wahl

Wie wir Hosen und wie wir Kleider sehen, sagt verdammt viel darüber, welchen Stellenwert „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ in unserer Gesellschaft noch immer haben. Und wer mit der geschlechtlich genormten Kleiderordnung bricht, bricht mit der Hierarchie als Ganzem. Das ist für viele Menschen ein Grund, all jene zu verspotten, deren Aussehen und Kleidung unpassend scheinen: etwa trans Personen oder queere Menschen.

Dass meine Kleider mehr waren als ein modisches Statement, bemerkte ich bald an mir selbst: Mit Kleid fühlte ich mich frei und verletzlich; ich bewegte mich graziler, und die Leute auf dem Gehweg wichen mir nicht mehr aus. Die Blicke der anderen: überrascht und belustigt. Nicht selten aber auch verwirrt und verächtlich. Unterbewusst teilte ich die Welt bald auf in Orte, wo es mir angenehm war, Kleider zu tragen – und wo nicht: gern in Berlin-Neukölln, den Donauauen, bei Hausfeten – nicht so gern in Oberbayern, in U-Bahnen, in Eckkneipen. Irgendwo dazwischen die Wiener Innenstadt.

Anfang Juni. Die Nacht war warm. Ich war zu einer Party eingeladen und hatte mir mein neues Lieblingskleid angezogen. Weit ausgeschnitten, eng und mit bunten Punkten, die wie Wasserfarbentupfer ineinanderliefen. Die Freundin, mit der ich an diesem Abend unterwegs war, hatte mir ein Kompliment gemacht. Wir gingen die Gumpendorfer Straße in Wien hinunter, wo sich im Sommer Straßenlokal an Straßenlokal reiht.

Die Bombe zündete, als wir ein Lokal passierten, vor dem sich zehn Raucher zusammengeschart hatten: Beim Anblick des Kleides fingen die Männer an zu johlen, zu pfeifen, zu schreien, zu drohen (die genauen Worte verstand ich nicht). Erst stieg Angst in mir auf, dann Wut, schließlich kam langsam die Euphorie zurück. Und als ich am nächsten Morgen vor meiner Kleiderstange stand, hatte ich die Wahl: Hose oder Kleid, Mann oder Nichtmann, Mitläufer oder Deserteur. Diese Wahl haben die meisten nicht.

Fotos: Siegrid Reinichs

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