In letzter Zeit gab es viele Berichte über Armut in Deutschland. Wie schlimm ist denn die Situation?

Christoph Butterwegge: Entscheidend ist nicht die exakte Zahl der Armen, sondern die Tatsache, dass der Trend klar in Richtung einer tieferen Spaltung der Gesellschaft zeigt. Armut und Reichtum nehmen gleichzeitig zu, was natürlich kein Zufall ist, wenn Reichtum als verdienter Lohn für die „Leistungsträger“ und Armut als berechtigte Strafe für Leistungsunfähigkeit oder -verweigerung gilt. Für mich stellt es aber keine Leistung dar, die „richtigen“ Aktien zum „richtigen“ Zeitpunkt gekauft und wieder verkauft zu haben, aber eine zu gering entlohnte Leistung, was Erzieherinnen, Krankenschwestern und Altenpfleger tun.

Paul Nolte: Wir haben Grund zur Wachsamkeit angesichts wirtschaftlicher und demografischer Veränderungen. Aber die Lage verändert sich im Moment nicht dramatisch. Alleinerziehende Frauen, junge Männer ohne Schulabschluss: Das sind die Problemzonen. Und in Zukunft müssen wir neue Altersarmut verhindern.

In Deutschland muss angeblich niemand hungern. Ist also „Armut“ angesichts des relativen Wohlstands in den meisten Haushalten überhaupt der richtige Begriff?

Christoph Butterwegge: Ja, denn zur Armut hier gehört keineswegs, dass man hungert oder friert, sondern sie liegt dann vor, wenn man sich vieles von dem nicht leisten kann, was für die meisten Mitglieder der Gesellschaft normal ist. Armut in einem reichen Land kann übrigens erniedrigender wirken als in einem armen Land, wo sich die Betroffenen weniger schämen und verstecken müssen. Wenn etwa ein Jugendlicher im tiefsten Winter mit Sandalen und Sommerkleidung auf dem Schulhof steht und von den eigenen Klassenkameraden ausgelacht wird, wünscht er sich womöglich, stattdessen lieber ins Bett gehen zu müssen, ohne etwas zu essen zu bekommen.

Paul Nolte: Die Unterschiede „unserer“ Armut zu der von Menschen in existenzieller Not, ohne Obdach, ohne sichere Nahrung und Trinkwasser sollten wir uns immer bewusst machen – gerade in der globalisierten, der „einen“ Welt. Aber das enthebt uns nicht von der Verantwortung für unseren eigenen Staat, unsere eigene Gesellschaft – und von einem kritischen Blick auf die Verhältnisse bei uns. Deshalb: Ja, „Armut“ gibt es auch bei uns; alles andere wäre Begriffsdreherei.

Laut Bundesarbeitsministerium öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter. Was ist der wesentliche Grund dafür?

Christoph Butterwegge: Schuld ist erstens eine Regierungspolitik nach dem Matthäus-Prinzip. Im Evangelium des Matthäus heißt es sinngemäß: Wer hat, dem wird gegeben, und wer wenig hat, dem wird das Wenige auch noch genommen. Ich nenne die Erhöhung der Mehrwertsteuer für Normalverbraucher und die Senkung der Mehrwertsteuer für Hotelbesitzer als Beispiele aus der Steuerpolitik sowie die Einführung sowohl des Eltern- wie des Betreuungsgeldes als Beispiele für die Familienpolitik. Zweitens hat der Um- beziehungsweise Abbau des Sozialstaates zu weniger Sicherheit für viele Menschen geführt und das Abstiegsrisiko verstärkt. Neben den (Langzeit-)Arbeitslosen, Rentnerinnen und Rentnern sowie Behinderten und Kranken gehören Familien bzw. ihre Kinder zu den Hauptbetroffenen der „Reformen“, die das System der sozialen Sicherung bis ins Mark erschütterten. Durch die sogenannte Riester-Reform wurde beispielsweise das Prinzip der Lebensstandardsicherung in der Rentenversicherung aufgegeben, noch bevor man dasselbe durch Hartz IV im Arbeitsmarktbereich realisierte.

Paul Nolte: Erstens sind die Einkünfte aus Vermögen – also Zinsen, Gewinne und so weiter – viel stärker gestiegen als die Einkommen aus Arbeit. „Superreiche“ wie Unternehmensvorstände und Manager sind der Normalbevölkerung davongeeilt, ohne dass diese zwangsläufig ärmer geworden wäre – der Abstand ist aber gewachsen. Und zweitens leben mehr Menschen prekär, von sehr wenig Geld, als früher; sie verlieren „von unten“ den Anschluss an die Mittelschicht. Das ist die Folge von billigen Servicejobs, aber auch der Veränderung von Familienstrukturen, vor allem bei jungen Müttern, die ohne den Partner beziehungsweise Vater der Kinder leben.

Was bedeutet die Ungleichheit für den gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Christoph Butterwegge: Wenn sich die Gesellschaft spaltet, zerfallen ihre Städte, worunter der soziale Zusammenhalt leidet. Spaltungstendenzen erhöhen aber nicht bloß das Konflikt- und Gewaltpotenzial einer Gesellschaft, vielmehr auch das Risiko einer Krise der politischen Repräsentation. Wer die brisante Mischung von berechtigter Empörung, ohnmächtiger Wut und blankem Hass auf fast alle (Partei-) Politiker unseres Landes kennt, wie sie in Versammlungen von Hartz-IV-Beziehern existiert, kommt zu dem Schluss, dass innerhalb der Bundesrepublik längst zwei Welten oder Parallelgesellschaften existieren und die Brücken dazwischen abgebrochen sind.

Paul Nolte: Das Gefühl geht verloren, Verantwortung für andere zu übernehmen. Wenn Reiche ihr Leben auf der Yacht führen statt an den Sorgen des Stadtviertels teilzunehmen, ist der Zusammenhalt in Gefahr. Und doch ist der Zusammenhang kompliziert. So ist die Gesellschaft der USA, materiell gesehen, ungleicher als die deutsche, und doch ist ihr Zusammenhalt eher stärker, weil freiwilliges Engagement eine große Rolle spielt.

Frauen, Kinder und Alte sind besonders von Armut betroffen. Tut der Staat zu wenig für sie?

Christoph Butterwegge: Dies gilt zumindest dann, wenn sie nicht zu einer privilegierten Gesellschaftsschicht gehören. Kinder von Familienunternehmern etwa können diese inzwischen beerben, ohne einen Cent betriebliche Erbschaftsteuer zahlen zu müssen, selbst wenn es sich um einen großen Konzern handelt. Es ist aber keine Leistung, der Sohn oder die Tochter eines Milliardärs zu sein. Auch die Rentenpolitik der Bundesregierung ist nicht mehr darauf orientiert, den gewohnten Lebensstandard im Alter zu sichern und Armut zu vermeiden.

Paul Nolte: Moment – Frauen und Kinder ja, Alte eindeutig nein! Wenn wir über Altersarmut diskutieren, dann in Sorge um die Zukunft, sozusagen um die Rente der jetzigen 400-Euro-Jobber. Der Staat tut übrigens für kaum eine Gruppe mehr als für die Rentner; auch in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung gehörten die Rentner zu den großen Gewinnern. Für alleinerziehende Frauen gilt: Der Staat stößt an Grenzen, wenn er das Weglaufen eines Vaters und Verdieners kompensieren soll. Am wichtigsten sind hier nicht Transferleistungen, sondern Infrastrukturen: vor allem Ganztagsbetreuung, sodass die Frauen arbeiten und Geld verdienen können.

Haben die Hartz-Reformen das Armutsproblem verschärft?

Christoph Butterwegge: Dadurch ist die Armut bis zur gesellschaftlichen Mitte vorgedrungen, denn das Gesetzespaket hat mit dem Lebensstandardsicherungsprinzip des Sozialstaates gebrochen. Mit der Arbeitslosenhilfe wurde zum ersten Mal nach 1945 eine für Millionen Menschen existenziell wichtige Sozialleistung abgeschafft und durch das Arbeitslosengeld II ersetzt, welches nur das Existenzminimum sichert. Neben vielen älteren Erwerbslosen, die hofften, bis zur Rente von Arbeitslosenhilfe leben zu können, sind Familien, Kinder und Jugendliche die Hauptleidtragenden der relativ niedrigen Beihilfen. Hartz-IV-Betroffene müssen ihre Arbeitskraft zu Dumpinglöhnen verkaufen. Ein staatlich geförderter Niedriglohnsektor, wie ihn die Hartz-Gesetze errichten halfen, verhindert weder Arbeitslosigkeit noch Armut, vermehrt Letztere vielmehr.

Paul Nolte: Vor allem haben sie schon lange bestehende soziale Probleme sichtbar gemacht. Die überwiegend weibliche Armut in der Sozialhilfe war vorher kaum ein Thema. Und über Langzeitarbeitslosigkeit wurde seit Jahrzehnten geklagt, ohne dass viel passierte. Richtig ist, dass ein Teil der Arbeitslosen nun schneller auf ein Sozialhilfeniveau abrutschte. Andererseits haben die Hartz-Reformen viel Bewegung in den Arbeitsmarkt gebracht und damit Menschen aus der Armut herausgeholt.

Früher galt einmal, dass Arbeit vor Armut schützt. Heute können über eine Million Menschen von ihrem Lohn nicht leben. Wäre ein Mindestlohn die Lösung?

Christoph Butterwegge: Ja, denn da der Niedriglohnsektor heute das Haupteinfallstor für Armut ist, muss er durch einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von etwa 10 Euro pro Stunde zurückgedrängt werden. Ein flächendeckender Mindestlohn würde verhindern, dass immer mehr Beschäftigte von ihrer Arbeit nicht leben können, während der Staat das Lohndumping von Unternehmern auf Kosten der Steuerzahler/innen subventioniert. 20 von 27 EU-Ländern haben längst einen solchen Mindestlohn, ohne dass der Beschäftigungsstand und die Tarifpolitik der Gewerkschaften negativ berührt würden. Warum sollte die mit Abstand stärkste Volkswirtschaft Europas zusammenbrechen, wenn ein Mindestlohn eingeführt wird?

Paul Nolte: Dass Arbeit früher vor Armut schützte, ist eine Legende. Im Gegenteil, bis ins frühe 20. Jahrhundert hat sich ein Großteil der Bevölkerung in Arbeit abgeplagt und war trotzdem bitterarm – vor allem in der Landwirtschaft! Mindestlöhne sind kein Allheilmittel, und sie können gar nicht so hoch sein, dass damit ein einzelner Verdiener eine vierköpfige Familie gut ernähren könnte. Da braucht es andere sozialstaatliche Mittel wie Kindergeld oder Wohngeld. Und dass jeder Erwachsene im Prinzip erwerbstätig ist, nicht mehr nur der Ehemann und Vater als „Ernährer“, ist eben heute der Normalfall.

Was sind weitere Schritte im Kampf gegen die Armut?

Christoph Butterwegge: Nötig ist die Umverteilung von Einkommen, Arbeit und Vermögen, natürlich von oben nach unten. Die Einkommensteuer muss wieder progressiver ausgestaltet, also vornehmlich im Bereich des Spitzensteuersatzes stark angehoben werden. Leiharbeit, Werkverträge und Mini-Jobs sollten erschwert oder verboten werden. Außerdem muss die Vermögenssteuer wieder erhoben werden. Sie ist keineswegs abgeschafft, sondern von der Regierung Kohl 1997 nur auf Eis gelegt worden, steht aber noch im Grundgesetz. Durch eine Weiterentwicklung der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung zu einer solidarischen Bürgerversicherung, in die eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie Grundsicherung integriert sein müsste, könnte Armut nicht vollends beseitigt, aber spürbar verringert werden.

Paul Nolte: „Kampf“ gegen die Armut klingt mir fast eine Spur zu martialisch. Es bleibt für alle Zeiten eine der wichtigsten Aufgaben demokratischer Sozialstaaten – lösbar ist sie nie. Und es gibt immer viele Hebel, die man in Bewegung setzen muss. Im Moment am wichtigsten: Bildung. Denn Schulabschluss und Ausbildung sind keine Garantie, aber doch eine gute Versicherung gegen dauerhafte Armut. Und immer wichtiger wird es, dass Mieten und Nebenkosten bezahlbar bleiben, damit für Geringverdiener genug zum Leben übrig bleibt.

Prof. Dr. Paul Nolte lehrt Neuere Geschichte an der FU Berlin. Er ist Herausgeber der Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. 2012 sind von ihm die Bücher „Armut in einem reichen Land“ und „Armut im Alter“ erschienen, beide im Campus Verlag