Zwei Oberschenkel mit blauen Kinesio-Tapes und seitlichen Stabilisierungen vor einem pinken Gymnastikball

Diese entsetzliche Lücke

Acht Zentimeter bis ins Glück? Ezequiel lässt sich die Beine brechen, um zu wachsen

Text: Simone Kamhuber und Fotos: Bradley Secker
Thema: Körper
22. September 2025

Ezequiel Martínez nähert sich seinem Traum, einen Millimeter am Tag. Alle sechs Stunden steckt er einen Inbusschlüssel in die Metallgestelle, die aus seinen Beinen ragen, und dreht ihn um 90 Grad. So streckt er die beiden Nägel, die ihm in die Oberschenkelknochen eingesetzt wurden. Langwierig ist dieser Traum, schmerzhaft und teuer. Aber Ezequiel will acht Zentimeter wachsen. Damit er sich „endlich vollständig“ fühlt, wie er sagt. Oder besser: wie er hofft. 

„Wanna Be Taller“ heißt die Agentur in Istanbul, die diese Hoffnung schürt. Zusammen mit Privatkliniken führt sie nach eigenen Angaben jährlich rund 85 kosmetische Beinverlängerungen durch. Männer und ein paar weniger Frauen aus Deutschland, Saudi-Arabien, China oder den USA reisen für den Eingriff weit an den Stadtrand der europäischen Seite Istanbuls, wo normalerweise kein Tourist zu sehen ist. 

Vier Tage nach der Operation wurde Ezequiel in ein Hotel verlegt. Es wird sein Zuhause für die ersten drei Monate der Heilung. Er wartet im Rollstuhl in der Lobby, trägt Jogginghose und Tribal-Tattoo am Oberarm. Wundversorgung und Physiotherapie stehen an, direkt im Hotel. Gehört alles zum All-inclusive-Paket, das die Agentur anbietet. Auf der Physiotherapieliege desinfiziert eine Krankenschwester die Einstichstellen. Sie windet das getränkte Tuch um die Metallstäbe, während Ezequiel erzählt, warum er jetzt, mit 41 Jahren, so dringend eine Kreditkartenlänge größer werden will. 

Durchschnittsgrößen von Männern

Türkei 1,76 m 
Spanien 1,76 m
USA 1,77 m 
Deutschland 1,80 m

In der Schule sei er lange der Größte gewesen. Aber bei 1,73 Meter war Schluss. Drei Zentimeter unter der männlichen Durchschnittsgröße in Spanien, wo Ezequiel in Barcelona aufwächst. Nicht dramatisch, würde man denken. Aber es habe sich wie ein Fehler im Gen-Bauplan angefühlt: Sein Vater und sein Großvater sind fast zehn Zentimeter größer. 

Seine Familie mache sich wegen der Operation Sorgen, sagt Ezequiel. Sie hätten ihm immer versichert, er sei richtig so, wie er ist. Er habe tolle Freunde, auch mit den Frauen laufe es gut. „Nur ich habe mir Druck gemacht.“ Mit 20 informierte er sich zum ersten Mal über Beinverlängerungen. Aber die Methoden wirkten zu rabiat, zu unausgereift.

Als er mit 31 nach Polen zog, wurde die Stimme in seinem Kopf lauter. „Größendysphorie“ nennt er das Gefühl, dass seine Körpergröße nicht zu ihm passt. Ein klinisch anerkannter Begriff ist das nicht, er fällt vor allem auf den Webseiten der Privatkliniken. Dass viele Polen noch größer waren, machte ihm zu schaffen. 

In Clubs ging er mit Plateauschuhen

Die Sprachschule, die er dort eröffnet hat, lief gut. Doch je erfolgreicher sein Unternehmen, desto weniger fühlte sich Ezequiel in der Lage, seinen Erfolg auch auszustrahlen. Saloppe Kommentare von Sprachschülern („Dich hab ich mir größer vorgestellt“) nagten für Wochen an ihm. In der Supermarktschlange verglich er sich mit anderen Wartenden, in Clubs ging er mit Plateauschuhen, und selbst allein zu Hause kreisten seine Gedanken um das Leben, das er führen würde, wäre er doch nur ein bisschen größer. Über eine Therapie habe er nie ernsthaft nachgedacht. „Ich wusste ja, wo mein Problem liegt“, sagt Ezequiel und hält seine Hand flach über seinen Scheitel. 

Den Tiefpunkt erreichte Ezequiel 2021. Unter einem Vorwand verlässt er seine Freundin: Sie ist drei Zentimeter größer als er. Er schämt sich zu sehr, um ihr die Wahrheit zu sagen. Kurz darauf informierte er sich erneut über Beinverlängerungen – und landete bei „Wanna Be Taller“. Im Dezember 2024 reiste er zum ersten Mal nach Istanbul. 

Size matters. Ob wir wollen oder nicht. Große Menschen sind beruflich erfolgreicher, wohlhabender und werden als attraktiver wahrgenommen. Geschlechterrollen und Beziehungen mögen sich verändert haben, aber das Ideal vom großen Mann ist hartnäckig: Laut einer Parship-Studie kommt für jede zweite heterosexuelle Frau ein kleinerer Partner nicht infrage, drei Viertel fühlen sich von einem Größeren an ihrer Seite beschützt. Umgekehrt geben Männer beim Onlinedating gerne ein paar Zentimeter mehr an. Der sogenannte Napoleon-Komplex – also die Vorstellung, kleinere Männer kompensierten ihre Körpergröße mit Dominanz oder auffälligen Statussymbolen – ist im Sprachgebrauch verbreitet, wissenschaftlich aber nicht belegt. Wobei ohnehin längst bekannt ist: Mit seinen 1,68 Metern galt Napoleon für seine Zeit keineswegs als klein. 

Ezequiel Martínez wird nach einer OP zur Beinverlängerung auf einer Liege behandelt

Nach der OP ist regelmäßige Physiotherapie wichtig

Ezequiel Martínez sitzt nach einer OP zur Beinverlängerung in einem Rollstuhl

Für den Eingriff hat Ezequiel seinen Audi verkauft 

40 Autominuten vom Hotel liegt die Klinik, in der Ezequiel operiert wurde. Ein gläserner Hochhausklotz, der zwischen Malls und Wohnsiedlungen sitzt. Yunus Öç, der behandelnde Chirurg, empfängt in seinem Büro. In dem fällt zuerst die Pappwand auf, mit Messskala für Vorher-nachher-Fotos. 250 kosmetische Beinverlängerungen habe er in den vergangenen drei Jahren durchgeführt, sagt Öç. Seit Kurzem biete die Klinik auch Beinverkürzungen an. „Dafür kommen vor allem große Frauen.“ 

Öç hat die Hände gefaltet, Beratungshaltung. Seine Patientinnen und Patienten kommen aus aller Welt. Besonders häufig seien Migrationsgeschichten: Männer, die in ihrer Heimat durchschnittlich groß sind, im neuen Land aber von allen überragt werden. Männer, die gemobbt werden, ihren Misserfolg in der Liebe mit ihrer Körpergröße verknüpfen oder sich, so wie Ezequiel Martínez, im Job nicht ernst genommen fühlen. 

Zum Psychologen schicke er Patienten nur, wenn er einen konkreten Anlass sieht, sagt Öç. „Depressionen oder Angststörungen haben aber eigentlich alle, die zu mir kommen.“ 

Aber wie lässt er einen ausgewachsenen Mann weiterwachsen? An Ezequiels Ultraschallbild erklärt Öç die gängigste Verlängerungsmethode. Dabei werde der Oberschenkelknochen minimalinvasiv durchtrennt, um einen ausziehbaren Titannagel in den Knochenmarksraum einzuführen. Und außen am Schenkel eine Haltevorrichtung angebracht. Die ist über Schrauben durch die Haut mit dem Nagel verbunden – mit diesem sogenannten Fixateur kann der Nagel später von außen millimeterweise verlängert werden. „Knochen, Muskeln und Gewebe passen sich dem Wachstum an“, sagt Öç. 

Bis zu 17,5 Zentimeter Beinverlängerung sind möglich

Mit der Operation sind maximal zehneinhalb Zentimeter drin. Bis zu 17,5 Zentimeter, macht man später noch die Unterschenkel. Ezequiel hätte gerne das Maximum rausgeholt, aber Öç entscheidet von Fall zu Fall, je nach Knochenqualität und Körperproportionen. Nach zwei bis drei Monaten ist die Wunschgröße erreicht, dann werden die Nägel blockiert und die Fixateure entfernt. 

Der Schönheitstourismus boomt in der Türkei. Beinverlängerungen, Haare, Zähne, Brüste: Für jeden ästhetischen Eingriff gibt es spezialisierte Kliniken im Land. 2019 kamen gut 700.000 Patientinnen und Patienten, 2024 bereits mehr als doppelt so viele. Gegen die Türkei sprechen laut Patientenberichten: die Sprachbarrieren, die teils komplizierte Recherche nach qualifizierten Ärzten und dass die oft Patientinnen und Patienten operieren, die sie zum ersten Mal sehen. Für die Türkei sprechen laut einer Patientenumfrage: die Kosten, die einfache Anreise und die Qualität von Kliniken und Fachpersonal. In Deutschland bieten nur wenige Zentren kosmetische Beinverlängerungen an. Die Kosten für die Operation beginnen hier bei etwa 60.000 Euro. Ezequiel Martínez hat in der Türkei weniger als die Hälfte gezahlt, für den Eingriff und die wochenlangen Nachbehandlungen. 

„Ich sage meinen Patienten, dass die Heilung lang und schmerzhaft ist – bis zu einem Jahr“, sagt Öç. Dann seien die Knochen verwachsen. Anfragen von Patienten mit Vorerkrankungen lehne er kategorisch ab, Leistungssportler auch. Man könne auf verlängerten Beinen zwar wieder Sport treiben, aber nie wieder so wie zuvor. Wer raucht, die Physiotherapie vernachlässigt oder keine regelmäßigen Röntgenbilder schickt, gefährde die Heilung. „Ein Patient hat keine Kontrollbilder geschickt, ist trotz Schmerzen weitergelaufen. Da ist der Nagel gebrochen, und wir mussten erneut operieren.“ 

Eine OP zur Beinverlängerung, Beine liegen auf einem OP-Tisch, eine Art Bohrer wird benutzt

Beinverlängerungen, Haare, Zähne, Brüste: Der Schönheitstourismus boomt in der Türkei. 2019 kamen gut 700.000 Patientinnen und Patienten, 2024 bereits mehr als doppelt so viele

Auch wenn alles beachtet wird, können Komplikationen auftreten. Patienten berichten öffentlich von Fehlstellungen, von steifen Knie- oder Sprunggelenken, von Krankenhauskeimen, gegen die Antibiotika nicht helfen, und psychischen Problemen, weil die OP ihre Probleme nicht gelöst hat. Oder von Monaten im Rollstuhl, weil sie nach dem Eingriff gar nicht mehr laufen können. 

In den Stunden nach der Operation habe er gezweifelt, ob der Eingriff richtig war, sagt Ezequiel. „Ich wusste, dass es wehtun würde. Aber die Schmerzen waren wirklich unerträglich“, sagt er. Mitleid wolle er nicht, zumal er jetzt Fortschritte macht. Viele Männer verheimlichen, dass sie sich wegen ihrer Größe schämen und sich die Beine strecken lassen. Auch deshalb zeigt Ezequiel seine Genesung auf einem Youtube-Kanal. 

Die Videos zeigen seine ersten Schritte mit Gehhilfe oder wie er mit bandagierten Beinen den Bizeps trainiert. Später will Ezequiel noch das Video hochladen, auf dem er an Tag sechs zum ersten Mal ein paar Treppenstufen bewältigt hat. Seine Oberarme zittern, als er sich am Geländer hochzieht, der Atem geht stoßweise. Unterlegt sind die Videos mit aufpeitschenden Liedern oder Motivationssprüchen sonorer Männerstimmen, die predigen, dass der Weg zum Erfolg durch den Schmerz führe. Dabei finde er die Vorstellung, Körpergröße mache männlicher, eigentlich problematisch, sagt Ezequiel. „Ein kleiner Mann kann genauso ein richtiger Mann sein. Wenn er ein guter Mensch ist, ein guter Vater, sich um andere kümmert.“ Es ärgere ihn, dass der Eingriff oft mit Maskulinisierungsgerede oder rein kosmetisch beworben werde. „Mir geht es nicht um Ästhetik“, sagt er und tippt sich an die Schläfe. „Mir geht es um das hier.“ 

In drei Monaten wird Ezequiel die Fixateure los sein und zurück nach Spanien fliegen, wo er inzwischen wieder lebt. Er ist vorsorglich in eine Wohnung im Erdgeschoss umgezogen und freut sich darauf, wieder unter Menschen zu kommen. Die Selbstzweifel, hofft er, werden dann verschwunden sein. 

Titelbild des fluter 96 zum Thema Schönheit
Dieser Artikel ist aus dem fluter „Schönheit“.
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