fluter.de: Herr Gehl, in vielen Städten quälen sich Massen von Autos durch die Zentren, an den Rändern gibt es Hochhaussiedlungen, die zu sozialen Brennpunkten geworden sind. Was ist eigentlich schiefgelaufen?

Jan Gehl: Seit den 1960er-Jahren war die Stadtplanung auf der ganzen Welt für viele Jahre bestimmt von zwei großen Paradigmen. Zum einen wollten Planer alle Lebensbereiche voneinander trennen: Wohnen, Arbeiten, Kommunizieren. So sind in den Vorstädten Bettenburgen entstanden, von denen aus die Menschen in die Innenstadt pendeln. Und mit dem Paradigma des Motorismus haben sie versucht, die Autofahrer in den Städten glücklich zu machen.

Sollte es Stadtplanern nicht eher darum gehen, alle Bewohner einer Stadt glücklich zu machen?

Natürlich sollte es das. Aber im Modernismus haben sie alles vom Flugzeug aus geplant und sich die schönen Muster angeschaut, die sie erschufen. Um die Menschen auf dem Boden hat sich niemand geschert. Die konnte man von so weit oben ja auch gar nicht sehen. Mit dieser Methode waren die Planer sehr effizient darin, die Städte wenig einladend zu machen.

Was sagen Sie heute der Verwaltung einer Stadt, wie sie etwas verbessern kann?

Man muss sich viel mehr damit beschäftigen, welche Architektur wirklich funktioniert und welche nicht. Viel zu lange ging es in der Architektur nur darum, modische, beeindruckende Gebäude in die Städte zu setzen. Was diese mit den Städten machten, war nicht so wichtig und wurde kaum untersucht.

Woran liegt das?

An vielen Universitäten wird Architektur mit großem Fokus auf Form und Ästhetik einzelner Bauten gelehrt – vor allem in Europa. Die Studenten lernen nicht viel über die Konsequenzen ihrer Arbeit in einer Stadt. Wenn man Architektur nur als Kunst begreift, hat man ein Problem. Denn wie soll man mit einem Künstler diskutieren, seine städtebauliche Arbeit kritisieren? Nach dem Motto: „Seien Sie doch froh, dassFrank Gehry hier in Ihrer Stadt ein Gebäude errichtet. Und jetzt halten Sie die Klappe!“

War das überall so?

Nein, in Kopenhagen zum Beispiel gab es früh eine systematische Erhebung über die Bewohner und ihr öffentliches Leben: für jeden Teil des Jahres, der Woche und des Tages. Wir haben einen kompletten Überblick bekommen, wie Menschen eine moderne Stadt nutzen. Wir haben verstanden, was passiert, wenn wir Dinge verändern. Wenn wir mehr Bäume pflanzen, mehr Bänke aufstellen, mehr Fußgängerzonen etablieren. So konnten wir genau verstehen, wie wir das Leben in einer Stadt zum Besseren ändern können.

Helfen diese Erhebungen dabei, mehr politische Unterstützung für Ihre Vorschläge zu bekommen?

Genau an diesem Punkt wird es für Politiker interessant: Wenn es nachweisbare Erfolge gibt, wollen sie schnell mehr davon. Als ich mich von der Kopenhagener Universität verabschiedet habe, schickte mir der Bürgermeister einen Brief mit den Worten: „Wenn Sie uns nicht mit Ihren Daten gezeigt hätten, wie die Stadt funktioniert, hätten wir Politiker niemals gewagt, Kopenhagen zu einer der lebenswertesten Städte der Welt zu machen.“

Dabei scheint es doch naheliegend, Daten über die eigene Stadt zu erheben …

Wir wussten lange Zeit absolut nichts darüber, wie Menschen Architektur und Städte nutzen. Niemand war an solch einem Wissen interessiert. Doch das hat sich – zum Glück – seit einiger Zeit geändert. Wir erleben gerade eine riesige Umwälzung in der Stadtplanung – mit Fokus auf Lebensqualität, Klimaschutz und Gesundheit. Wir beschäftigen uns jetzt viel intensiver mit dem Wohlbefinden der Menschen, die in der Stadt leben.

Was passierte eigentlich vor Modernismus und Motorismus?

Die traditionelle Stadtplanung war viel langsamer und kontinuierlicher. Von Generation zu Generation wurde weitergegeben, was die besten Dimensionen für Straßen und Gebäude sind. Bis in die 1960er-Jahre hinein beruhte Stadtplanung in den meisten Fällen auf Tradition und Erfahrung. Und dann haben wir all das weggeworfen und gesagt: Der moderne Mensch braucht das nicht mehr. Man dachte, es sei rational, Städte großflächig am Reißbrett zu planen und gigantische Siedlungen mit Hochhäusern wie Plattenbauten zu errichten. Aber die Menschen sind nicht rational. Sie stimmen mit den Füßen ab und gehen dorthin, wo es lebenswert ist. Deshalb gelten solche ­Hochhausviertel heute auch als ziemlich unattraktiv.

Sie können natürlich alles abreißen und etwas Besseres bauen. Oder – vielleicht der bessere Weg – sie reißen nur Teile ab, machen die Häuser niedriger und bauen kleinere Gebäude dazwischen. Und versuchen, die Erdgeschosse mit Leben zu füllen, mit Ateliers, Bars, Geschäften. Das ist ein guter Weg, um die Architektur wieder auf humane Maße zurückzuholen. 

Sind sie noch zu retten?​

Für die Lebensqualität spielt Sicherheit eine große Rolle. In einigen Städten versucht man die durch lückenlose Kameraüberwachung herzustellen.

Kann die Stadtplanung da andere Lösungen finden?

Ja, indem sie lebendigere Städte schafft. Wenn die Menschen mehr Zeit im öffentlichen Raum verbringen, wenn sie mehr Rad fahren und zu Fuß gehen, weil wir sie stärker dazu animieren, dann sind die Viertel belebter, und die Menschen werden stärker darauf achten, was um sie herum passiert. Und wenn die anderen Menschen sich sicherer fühlen, werden auch Sie selbst ein besseres Sicherheitsgefühl haben. Sobald Plätze aber verlassen und leer sind, steigt auch das Gefühl der Unsicherheit. Statt Gated Communities – also abgeschottete Wohnkomplexe – zu erschaffen, sollten wir deshalb lieber „Lively Communities“ bauen.

Wie demokratisch sollte Stadtplanung sein, wie viel Mitbestimmung kann es da geben?

Es ist sehr gut, so etwas demokratisch zu entscheiden. Es ist dabei unheimlich wichtig, die Menschen so gut und so vollständig zu informieren wie möglich. Worum geht es genau? Was haben an­dere Städte gemacht? Was sind die konkreten Optionen, zwischen denen die Bürger wählen können? Wie könnten sie von der Maßnahme genau profitieren? Wenn man ein Referendum abhält, das auf zu wenigen Informationen und zu simplen Fragen basiert, wird es kein besonders progressives Ergebnis geben. Das habe ich zum Beispiel in der Schweiz gesehen, wo es aus diesem Grund leider oft halbgare Kompromisslösungen gibt. Menschen treffen aber meist sehr vernünftige Entscheidungen, wenn sie gut informiert worden sind.

Junge Menschen verzichten zunehmend auf Autos. Zudem nimmt die Zahl der Alten in jedem Jahr zu, die sich in der Stadt bewegen müssen. Was folgt daraus für die Städte?

Sie sollten es den Bewohnern leicht machen, zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs zu sein. Man sollte ohne Probleme ohne Auto zurechtkommen.

Gibt es spezielle Maßnahmen für Ältere, um das Leben in der Stadt für sie angenehmer zu machen?

Wenn eine Stadt sich grundsätzlich stärker am Menschen orientiert, wird sie auch besser für ältere Menschen sein, weil diese sich dort besser und sicherer bewegen können. Man braucht Plätze, die gut vor Wind geschützt sind, wo es viele Möglichkeiten zum Sitzen und Ausruhen gibt, mit kleinteiliger Bebauung. Das bringt allen etwas.

Die schönen, attraktiven, lebendigen Stadtteile sind auch jene, die am meisten von Gentrifizierung betroffen sind. Ärmere Bewohner ziehen also fort, wohlhabendere kommen. Wie kriegen wir es hin, dass nicht nur die Besserverdienenden etwas von intelligenter Stadtplanung haben?

Was man auf jeden Fall nicht machen sollte: aufhören, bessere und menschenwürdigere Stadtplanung umzusetzen. Wenn man nichts verbessert, weil man Angst vor Gentrifizierung oder vor den Besserverdienenden hat, begibt man sich in eine Abwärtsspirale, und das ist für alle schlecht. Wir sollten Stadtteile verbessern und aufwerten. Aber wir sollten auch den Effekten der Gentrifizierung entgegenwirken.

Was kann man dagegen unternehmen?

Da gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten. In neu gebauten Vierteln könnte man zum Beispiel vorschreiben, dass 20 oder 30 Prozent der Wohnungen günstige Mieten haben müssen. Man kann auch gezielt Bauprojekte in Aufwertungsgebieten an öffentliche Genossenschaften vergeben.

Gibt es denn gelungene Beispiele für so eine soziale Durchmischung?

Ich halte viel von den Anstrengungen mancher Städte, in allen Teilen der Stadt das Wohnen zu erschwinglichen Preisen zu ermöglichen. Sinnvoll finde ich auch, was einige australische Städte machen: Diese bauen in Gegenden mit Sozialwohnungen gezielt kleine Häuser für Familien. Solch eine Diversität scheint sich sehr positiv auf die Viertel auszuwirken. Städte in Austra­lien sind ohnehin sehr fortschrittlich, was moderne Stadtplanung betrifft. Die sind allerdings auch finanziell gut ausgestattet.

Das ist ja längst nicht überall so. Oft schwimmen Städte nicht gerade in Geld.

In den USA zum Beispiel sind die Städte selbst oft mehr oder weniger mittellos. An die Stelle der öffentlichen Hand treten dann meist gemeinnützige Stiftungen, die etwas verbessern wollen. Und die oft eine sehr gute Arbeit leisten.

Es gibt aber auch Städte, die privaten Investoren das Feld überlassen …

Es ist extrem wichtig, dass es eine starke Stadtverwaltung gibt, die genau weiß, wo sie hinwill und privaten Investoren klare Vorgaben macht, was geht und was nicht geht, wo Unterstützung erwünscht ist und in welchem Rahmen. Wenn wir Städte komplett dem freien Markt überlassen, würden sie sich ziemlich schnell in riesige Shopping-Malls verwandeln.

Wie viel sollte man in einer Stadt grundsätzlich dem Markt überlassen, wo muss die öffentliche Hand eingreifen?

Ich habe ein tiefes Misstrauen dem Markt gegenüber. Wenn wir alles dem freien Markt überlassen, werden meist rückwärtsgewandte Dinge herauskommen. Wer ein kommerzielles Projekt baut, schaut meist, was in der Vergangenheit gemacht wurde, um dann das Gleiche zu machen. Es gibt nur sehr wenige Bauträger, die Experimente wagen oder etwas Neues ausprobieren. Diese Unternehmen wollen immer auf Nummer sicher gehen. Wir brauchen aber neue Ideen, die unsere Städte lebenswerter machen. Und nicht die alten, mit denen wir sie lebensfeindlich gemacht haben.

Jan Gehl ist Architekt, Stadtplaner und emeritierter Professor der Königlichen Dänischen Kunstakademie. Mit seiner Firma Gehl Architects berät er Städte weltweit, um diese sicherer, gesünder und nachhaltiger zu machen. 

Fotos: Carl de Souza/AFP/Getty Images; Lisa Rastl/Barcroft Media/Getty Images (aus der Produktion "bodies in urban spaces" von Willi Dorner); Rohan Thomson (Porträt)