Zuerst war es nur eine Vermutung – eine Hoffnung, an die sich seine Gedanken klammerten. Wenige Monate saß Dan Bright in einer Todeszelle, weil er einen Truckfahrer vor einer Bar ermordet haben soll, da erzählte ihm ein Freund, dass das FBI den Tatort observiert hatte. Dan Bright schrieb dem FBI und bat die Bundespolizisten, ihm Unterlagen über seinen Fall zu schicken. Als sie sich weigerten, schrieb er ihnen noch einmal. Als sie sich wieder weigerten, schrieb er ihnen wieder. Zweieinhalb Jahre ging das so, bis sie ihm endlich einen 65 Seiten langen Report zusandten, dessen Inhalt vollständig geschwärzt war – bis auf einen einzigen Satz: »Die Quelle gab an, dass Daniel Bright für einen Mord im Gefängnis sitzt, der von ... begangen worden ist.« Der Name des Mörders war wieder geschwärzt. Das Dokument, das die Nummer 212 trägt, führte dazu, dass Dan Bright freigesprochen wurde. Mittlerweile lebt er wieder in seiner Heimatstadt New Orleans. Er sitzt am Küchentisch in seinem Appartement am Stadtpark, ein durchtrainierter Schwarzer, Mitte 30, mit goldenen Ohrringen, und erzählt vom Prozess, der Zeit im Gefängnis und wie er sich das Dokument 212 beschaffte. »Neun Jahre saß ich unschuldig, aber bis heute hat sich niemand bei mir dafür entschuldigt.« 

Die Vereinigten Staaten sind heute das einzige westliche Industrieland, in dem die Todesstrafe nach wie vor angewendet wird. Noch immer wird sie von zwei Dritteln der Amerikaner befürwortet, in 36 von 50 Bundesstaaten ist sie erlaubt. Besonders im Süden, Dan Brights Heimat, ist sie stark verbreitet. 80 Prozent aller Exekutionen finden im Süden der USA statt. Seit der Oberste Gerichtshof die Vollstreckung der Todesstrafe 1976 wieder zuließ, sind landesweit mehr als 1100 Gefangene hingerichtet worden. In der gleichen Zeit sind rund 130 Todeskandidaten freigesprochen worden, weil Zweifel an ihrer Schuld bestanden – Tendenz steigend. Nicht nur Anwälte, sondern auch Journalisten, Nichtregierungsorganisationen und studentische Arbeitsgruppen bemühen sich, Fälle aufzudecken, in denen Menschen unschuldig in der »Death row« sitzen. Die wachsende Zahl freigelassener Todeskandidaten hat dazu geführt, dass heute 90 Prozent aller Amerikaner davon ausgehen, dass unschuldige Todeskandidaten bereits hingerichtet worden sind. Es gibt viele Gründe, warum es zu einer Verurteilung eines Unschuldigen kommt. Eine Arbeitsgruppe an der Northwestern Law School in Chicago untersuchte vor sieben Jahren die Fälle von 86 freigesprochenen Todeskandidaten und fand heraus, dass falsche Aussagen von Augenzeugen in 45 Fällen entscheidend waren und die Staatsanwaltschaft oder die Polizei in 17 Fällen ihre Amtspflichten verletzt hatten – beispielsweise, indem sie Beweise unterschlugen. 

In Dan Brights Fall trifft beides zu: Ein Spitzel hatte dem FBI schon vor dem Prozess erklärt, dass Bright unschuldig sei. Die Behörde behielt dieses Wissen aber für sich, um den Spitzel zu schützen. Stattdessen sagte vor Gericht ein Barbesucher aus, der zwölf Stunden getrunken und damit gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen hatte – und dessen Aussage zur Entscheidung beitrug. Die Jury fällte ihr Urteil nach nur eineinhalb Tagen, der Richter hatte schließlich um eine schnelle Entscheidung gebeten, weil ein langes Wochenende bevorstand. Aber wie kam Bright überhaupt als Täter infrage? 
 

Vom Recht, andere im Namen des Gesetzes umzubringen 

Er war an diesem Tag in der Nähe der Bar, als er Schüsse hörte und zwei Männer sah, die ihre Gesichter unter Kapuzen verbargen und wegrannten. Da er damals mit Drogen dealte, meldete er sich nicht bei der Polizei, sondern fuhr wie geplant nach Florida und machte in Disney World Urlaub. Währenddessen wurde sein Bild bereits im Fernsehen gezeigt. Die Polizei hatte ihn zur Fahndung ausgeschrieben, obwohl sie nicht einmal bei seinen Eltern nachgefragt hatte, wo er sich aufhält. 

Wie viele Fehler in Todesstrafen-Prozessen auftreten, zeigt ein Report, den James Liebman 2000 veröffentlichte. Liebman arbeitet als Jura-Professor an der Columbia-Universität in New York. In seiner Studie wertete er die Berufungsverfahren von 5760 Todeskandidaten zwischen 1973 und 1995 aus. Er fand heraus, dass 68 Prozent der Todesurteile aufgehoben wurden, weil schwerwiegende Fehler den Prozess beeinträchtigt hatten. Kam es zu einer neuen Verhandlung, erhielten nur 18 Prozent der Angeklagten wieder die Todesstrafe, 75 Prozent eine geringere Strafe und sieben Prozent wurden freigesprochen. Im Grunde genommen war Liebmans Report die Todesstrafe für die Todesstrafe. Dennoch hat sich durch den Report nicht viel geändert – weil die Todesstrafe für viele Amerikaner zu den festen Glaubensbekenntnissen ihrer Gesellschaft gehört. Wie das Recht, eine Waffe tragen zu können. Vor allem für republikanische Politiker gehört zu den unbegrenzten Möglichkeiten eben auch die Möglichkeit, Menschen im Namen des Gesetzes zu töten. 

Oft entscheidet auch der soziale Status, wer getötet wird oder nicht. »Wer sich einen guten Anwalt leisten kann, wird auch nicht zum Tod verurteilt«, sagt Richard Dieter, der das Death Penalty Information Center leitet, das sich um öffentliche Aufklärung über die Todesstrafe bemüht. Berühmt ist der Fall des ehemaligen Footballspielers und Schauspielers (»Die nackte Kanone«) O. J. Simpson, der 1995 angeklagt wurde, seine Frau und ihren Liebhaber ermordet zu haben. Er wurde freigesprochen, obwohl sich viele Beobachter über seine Schuld einig waren. Simpson hatte ein Heer von Anwälten beschäftigt, die die Meinung der Geschworenen geschickt beeinflussten. Anders Dan Bright, der sich nur einen Anwalt leisten konnte, den Geschworene später als unbeholfen, unvorbereitet und betrunken beschrieben. 
 

Ein Beutel voll mit hochwirksamem Marihuana 

Auch Justin Wolfes Anwalt hat während der Verhandlung viele Fehler gemacht. Wolfe ist 26 Jahre alt, trägt einen blonden Vollbart und sitzt in einem Gefängnis in Virginia, dem Bundesstaat mit den meisten Hinrichtungen nach Texas. Sein Fall erregte vor sechs Jahren großes Aufsehen – zum einen, weil durch ihn einer der größten Drogenringe in der Geschichte des Bundesstaates aufgeflogen war, zum anderen, weil es weiße, gut ausgebildete Vorstadtkinder waren, die diesen Drogenring aufgebaut hatten, und keine schwarzen Getto-Kids.

Justin Wolfe war 19 Jahre alt, ein Jahr zuvor von der Highschool abgegangen, als er sich in der Wohnung einer Freundin mit seinem Dealer traf, dem 21jährigen Danny Petrole. Petrole brachte einen großen Matchbeutel voller chronic mit – hochwirksames Marihuana. Wolfe nahm es an sich, versteckte es und ging dann mit Freunden in einen Club, während Petrole in eine benachbarte Kleinstadt fuhr, in der er sich vor Kurzem ein Haus gekauft hatte. Als Petrole einparken wollte, kam ihm ein Wagen in die Quere, versperrte ihm den Weg und ein Mann mit Kapuzenpulli stieg aus. Neun Schüsse fielen aus wenigen Metern Entfernung durch das Beifahrerfenster. Der Mörder setzte sich einige Tage später nach Kalifornien ab, wo ihn die Polizei festnahm. 

Er hieß Owen Barber und hatte sich mit Wolfe in der Highschool angefreundet. Barber gab zu, Petrole ermordet zu haben, sagte aber aus, dass Wolfe ihn beauftragt habe. Barbers Freundin und andere Dealer bekräftigten die Geschichte. Wolfe beteuerte, dass er unschuldig sei, doch die Jury glaubte ihm nicht. Als sie ihre Entscheidung verkündete, sackte Wolfe zusammen und murmelte »Wow«. 

Plötzlich war er der jüngste Todeskandidat, den es in Virginia je gegeben hatte. Sechs Jahre ist das jetzt her, und noch immer klingt Wolfes Stimme ungläubig, als er sich an diesen Augenblick erinnert: »Ich weiß nicht. Was hätte ich denn sagen sollen? Ich bin unschuldig.« Wolfe spricht ruhig und überlegt. Damals vor Gericht wirkte er noch wie ein Junge, der kicherte, wenn man ihn auf das Geld, die Partys und seine Frauengeschichten ansprach. Doch dem Staatsanwalt gelang es, ihn als kaltblütig berechnenden Drogenpaten darzustellen. Es gelang ihm auch deshalb, weil Wolfes Anwalt noch nie in einem Mordprozess verteidigt hatte. Die Anwaltskammer entzog ihm wenige Monate später die Lizenz. 

Mittlerweile hat Wolfe einen überzeugenden Beweis für seine Unschuld – einen Beweis, den er dem Zufall verdankt. Als einer von Barbers Zellengenossen vor drei Jahren las, dass ein Termin für Wolfes Hinrichtung angesetzt worden war, meldete er sich bei Wolfes Anwälten und erklärte, dass ihm Barber gestanden habe, den Mord ohne Wolfes Wissen geplant zu haben. Daraufhin besuchte ein privater Ermittler Barber im Gefängnis und ließ ihn ein neues Geständnis unterschreiben. Da Barber es später widerrief, wurde es nicht als Beweisstück angenommen. Für Wolfe könnte es dennoch der erste Schritt in die Freiheit sein. Vielleicht ist es noch nicht zu spät. 

In den Vereinigten Staaten ist es üblich, dass Anwälte jede Möglichkeit, das Urteil anzufechten, ausschöpfen. Jeder Berufungsantrag durchläuft mehrere Ebenen, bis er beim Obersten Gerichtshof landet. Im Durchschnitt verbringt ein Verurteilter zwölf Jahre in der Todeszelle, bevor er hingerichtet wird. Justin Wolfe hatte schon zwei Exekutionstermine, aber seine Anwälte erwirkten, dass beide verschoben wurden. Es ist ein Rennen gegen die Zeit: Sollte das Gericht seine letzten Berufungsanträge ablehnen, könnte er im nächsten Jahr sterben. 

Vor fast zehn Jahren befand sich John Thompson in derselben Lage. Seine Hinrichtung war angesetzt – da erhielten seine Anwälte einen Anruf einer privaten Ermittlerin, die für sie arbeitete. Sie hatte Blutspuren gefunden, die dazu führten, dass Thompsons Fall neu aufgerollt wurde und er heute im siebten Stock eines Luxushotels in New Orleans sitzen und an einer Konferenz teilnehmen kann, bei der es um die Todesstrafe geht. Er ist ein kahler, hagerer Mann Mitte 40, trägt ein Polohemd, eine weite Baumwollhose und ist schwarz – auch das ist immer ein Thema, wenn es um die Todesstrafe geht. Studien zeigen, dass mehr als 40 Prozent aller Todeskandidaten schwarz sind – ein Prozentsatz, der dreimal höher als der schwarze Bevölkerungsanteil ist. 

Thompson holt ein großes Foto aus einer Mappe. Es zeigt einen weißen Mann, der vor einem Schreibtisch posiert. Dieser Mann heißt Jim Williams, er ist der Staatsanwalt, der gegen John Thompson geklagt hatte. Das Foto erschien in den 90er-Jahren in einer amerikanischen Männerzeitschrift. Williams sieht selbstsicher in die Kamera, auf einer Seite seines Schreibtisches steht das Miniaturmodell eines elektrischen Stuhls. Fünf Köpfe von Verurteilten kleben auf ihm. Alle hatte Williams in die Todeszelle gebracht, alle Urteile wurden später aufgehoben. Der Kopf in der Mitte gehört Thompson. Auf dem Foto trägt er Afrolocken. 22 war er damals. 

Wenn heute über die Todesstrafe debattiert wird, geht es immer öfter auch um DNA-Beweise. 16 Todeskandidaten sind bereits freigelassen worden, weil sie so ihre Unschuld beweisen konnten. Bei Thompson reichte ein Abgleich von Blutgruppen. Die Polizei hatte Kleidung mit Blutspuren unterschlagen – nachdem die Kleidung erneut analysiert wurde, war klar, dass die Blutgruppen nicht übereinstimmten. Der Mord wurde erneut verhandelt und Thompson freigesprochen. Er klagte auf eine Entschädigung und bekam 14 Millionen Dollar zugesprochen – fast eine Million für jedes Jahr in der Zelle. Demnächst wird sein Fall verfilmt: Matt Damon und Ben Affleck sollen die Anwälte spielen. Solche Geschichten haben dazu geführt, dass die Unterstützung für die Todesstrafe seit den späten 90er-Jahren schwindet. Sie ist immer noch hoch, aber es ist ein Anfang. Auch die Staatsanwaltschaften sind gewissenhafter geworden. Seit 1999 hat sich die Zahl der Vollstreckungen halbiert: 42 waren es im vergangenen Jahr – 1999, auf dem Höchststand, wurden noch 98 Menschen hingerichtet. Die Zahl der Verurteilungen hat sich sogar fast gedrittelt: 1995 waren es 326, 2007 nur noch 110. Und es gibt Staaten, die sich ganz von der Todesstrafe abwenden: New Jersey hat sie im Dezember 2007 abgeschafft, Maryland, New Mexico und Nebraska könnten folgen. »Auf lange Sicht«, sagt Richard Dieter vom Death Penalty Information Center, »wird die Todesstrafe verschwinden, und die Geschichten über unschuldig Verurteilte werden großen Anteil daran haben.« 

Es ist schon Nachmittag, als Thompson auf der Konferenz drei Freunde bittet, vorzutreten, und die Jahre nennt, die sie unschuldig im Gefängnis verbracht haben. Das Publikum klatscht und jubelt den Männern zu, als wären sie Hollywoodstars. Es ist eine unwirkliche Szene, aber sie tut diesen Männern gut, die so viele Jahre im Gefängnis verbracht haben. 43 Jahre insgesamt. 
 

USA: Staaten ohne Todesstrafe 

Alaska 
Massachusetts 
New York 
West Virginia 
Hawaii 
Michigan 
North Dakota 
Wisconsin 
District of Columbia 
Iowa 
Minnesota 
Rhode Island 
Maine 
New Jersey 
Vermont 

Gesamt 14 Staaten, ein Distrikt 
Quelle: DEATH PENALTY INFORMATION CENTER, 
Washington D.C.
 

Hinrichtungen 2007

China 470+ 
Iran 317+ 
Saudiarabien 143+ 
Pakistan 135+ 
USA 42 

Quelle: Amnesty International 
das Pluszeichen steht für die steigende Tendenz