Für Indien und China nahm das Nachtreten aus Europa einfach kein Ende. Wann immer seit der Konferenz in Kopenhagen vom Klimaschutz die Rede war, schimpften die Europäer erst ein wenig auf die Amerikaner – und dann umso mehr auf Indien und China. Die beiden großen Schwellenländer hatten sich bei dem Zusammentreffen der Staaten im vergangenen Dezember gemeinsam einer bindenden langfristigen Vereinbarung widersetzt; und damit die Rettung der Welt verhindert – das war das quasioffizielle europäische Fazit von Kopenhagen.

Doch so viel Pessimismus liegt den beiden Volkswirtschaften, die zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt gehören, nicht. Die Freude darüber, dass sie in den vergangenen Jahren gegenüber den westlichen Industrienationen mächtig aufgeholt haben, verdirbt ihnen so schnell keiner. Mehr noch: Im Kreuzfeuer der europäischen Kritik entdecken Indien und China große Gemeinsamkeiten, und zwar nicht als Klimasünder, wie europäische Kritiker vermuten würden – die gern darauf verweisen, dass allein in China in den vergangenen Jahren Hunderte neuer Kohlekraftwerke ans Netz gegangen sind.

Was Inder und Chinesen inzwischen provokativ als „Geist von Kopenhagen“ beschwören, ist mehr als eine politische Retourkutsche. Es ist ein aus der Krise von Kopenhagen geborener Neuanfang: die Vision einer nachhaltigen indisch-chinesischen Klima- und Energiepolitik. Ganz frei von westlichem Druck und dem Glauben an Klimavereinbarungen.

Jairam Ramesh rief diese Vision ins Leben. Indiens Umweltminister hat lange, gelockte Haare und sieht sich als Schüler Buddhas. Er ist nicht nur deshalb das auffälligste Kabinettsmitglied in Neu-Delhi: Manchmal verbietet er neue Bergwerksprojekte, ein anderes Mal untersagt er den Anbau von genmanipuliertem Gemüse. Er erlaubt sich Dinge, die vor ihm kein indischer Umweltminister je gewagt hätte. Der weltgewandte Ingenieur Ramesh kann sich das leisten, denn er ist persönlicher Mentor von Rahul Gandhi, dem Kronprinzen der Nehru-Gandhi-Dynastie. Rahul soll Indien einmal regieren. Wie? Das macht Ramesh ihm heute vor. Im Mai 2010 war der indische Klimameister in Peking. Statt wie westliche Minister über die gescheiterte Konferenz in Kopenhagen zu zetern, lobte Ramesh Peking ausdrücklich und sprach von einem indisch-chinesischen Geist. Tatsächlich hatten Indien und China zuvor auf internationaler Bühne selten so wirksam gemeinsam gehandelt wie in Kopenhagen. Ramesh erzählte in Peking noch einmal, wie genau die Klimakonferenz aus indischer Sicht verlaufen war: Die Europäer und Amerikaner hätten China als größtem CO2-Emittenten „eine Falle gestellt“, die die Inder rechtzeitig erkannten. Der Westen habe China zu verbindlichen CO2-Reduktionszielen zwingen wollen, ohne selbst – das galt insbesondere für die USA – Vorleistungen erbracht zu haben. Deshalb sei Indien China beigesprungen. „In ihrem Herzen wissen die Chinesen, dass wir sie in Kopenhagen aus der Isolation gerettet haben“, sagte Ramesh.

Von wegen versäumte Weltrettung – das Gegenteil traf für Ramesh zu! In den Augen des Umweltministers waren Indien und China in Kopenhagen gerade noch der Erpressung des Westens entkommen. Beinahe hätten sie sich neuen Regeln unterworfen, die womöglich dazu geführt hätten, künftiges Wirtschaftswachstum in Indien und China zu unterbinden. Und hätte das dem Klimaschutz überhaupt gedient? Ramesh, wie die meisten indischen und chinesischen Experten, glaubt bis heute nicht daran. Sogar Umweltschützer in Asien sehen das ähnlich. Natürlich habe die Welt auf der Klimakonferenz eine Gelegenheit verpasst, räumt Li Yan ein, ein erfahrener Kampagnenmanager von Greenpeace. Dennoch hätten China und Indien in Kopenhagen ihre gemeinsame Effizienz bewiesen und den reichen Ländern ehrgeizigere und genauere CO2-Reduktionsziele abverlangt, als diese zugestehen wollten. Für Li ist das ein gutes Omen für die Zukunft: „Durch eine engere Klimakooperation können China und Indien ein Modell für das Wachstum mit wenig CO2-Emissionen schaffen“, prophezeit der Greenpeace-Mann. Nichts anderes würden die übrigen Entwicklungsländer heute von China und Indien erwarten. Eine Schimäre? Blindes Wunschdenken nach eigenem Versagen? „Nein“, sagt Li, „eine historische Gelegenheit!“

Den gleichen Ton trifft Kushal Pal Singh Yadav, Klimaexperte beim Zentrum für Wissenschaft und Umwelt in Neu-Delhi, einer international renommierten indischen Nichtregierungsorganisation. „Die westliche Vorstellung, dass Indien und China für das Scheitern von Kopenhagen verantwortlich seien, ist vollkommen falsch“, sagt Yadav. Was die EU und die USA in Kopenhagen als verbindliche Ziele für den CO2-Abbau bis 2050 gefordert hätten, wäre in Wirklichkeit ein unverbindliches Langfristangebot gewesen, das sich um die teuren kurz- und mittelfristigen Ziele drückte. Zudem hätte man die nicht eingehaltenen Versprechen des Kyoto-Protokolls schlicht übergangen. Zu Recht hätten Indien und China den Deal deshalb abgelehnt, sagt Yadav und fügt an: „Delhi und Peking machen das Notwendige.“ Sowohl Yadav in Neu-Delhi wie auch Li in Peking erinnern daran, dass China und Indien schon vor Kopenhagen über ihre Schatten gesprungen wären. Beide Länder legten 2009 umfangreiche Emissionsbegrenzungsprogramme auf, die national, aber nicht international bindend sind. Zugleich nahmen sie von ihren alten, unausgesprochenen Überzeugungen Abstand, dass sich Klima- und Wachstumspolitik widersprächen und im Zweifel das Wachstum vorgehe. Eben deshalb sind Yadav und Li optimistisch: Hauptsache, die Riesenreiche Indien und China unternehmen wirklich etwas für den Klimaschutz, ob nun mit oder ohne internationales Abkommen.


.

Daran aber gibt es kaum Zweifel: Vor allem die erneuerbaren Energien in beiden Ländern boomen. „Indien hat ein riesiges neues Solarprogramm mit vielen dezentralen Anreizen für die Industrie. Davon kann China lernen“, beobachtet Li in Peking. Yadav hingegen lobt China als das Land, das Solar- und Windenergie mit billiger Technik und einem großen Markt überhaupt erst global wettbewerbsfähig gemacht habe. „Doch nicht einmal bei den erneuerbaren Energien sehen die Europäer China als Partner, sondern als Bedrohung für ihre Industrie“, sagt Yadav. Ihn stört, dass der Westen ständig Angst vor weltpolitischen Veränderungen habe, wenn es um China gehe.

China spielt in einer anderen Liga als Indien

Für den indischen Ökonom und Philosophen Prem Shankar Jha, Autor zweier Bücher über die Beziehungen zwischen Indien und China, steht die Klimapolitik ohnehin im Rahmen größerer wirtschaftlicher Verschiebungen. „Die Leute, die heute noch Macht in den internationalen Institutionen haben, haben sie in der wirtschaftlichen Realität längst nicht mehr“, sagt Jha. Kopenhagen sei für ihn das beste Beispiel dafür. Wichtig sei eben nicht, was Europa tue, da Europas Emissionsanteil gering ist. Aber ausgerechnet Europa hätte in Kopenhagen die Klimagesetze für die ganze Welt schreiben wollen. Wichtiger sei, was China und Indien jetzt in den Klimaschutz investierten. Dafür aber wolle der Westen zu wenig tun. Schon beim Technologietransfer nach China mache er nicht mehr mit. Das führe bereits heute zu einem grundsätzlichen Vertrauensverlust: „Indien und China fürchten einen Handelskrieg mit CO2-Steuern, für den der Westen die Klimafrage zum Vorwand macht“, sagt Jha.

Vor allem in Peking nötigt die Kopenhagen-Erfahrung der Regierung ein Umdenken ab: China spielt ökonomisch in einer anderen Liga als Indien, deshalb nahm man den südlichen Nachbarn bislang eher am Rande wahr. Doch nun erkannte das Parteiblatt China Daily beim Ramesh-Besuch in Peking: „China und Indien haben gemeinsame Interessen beim Aufbau ihrer nationalen Ökonomien und ihre Volkswirtschaften ergänzen sich zunehmend.“ Solche allgemeinen Bekenntnisse zu Indien hatte die KP bisher immer vermieden. Indien ignorierte man. Das ist jetzt vorbei. Kopenhagen gab dafür einen entscheidenden Anstoß. Denn schon einmal scheiterte der Versuch, beide Länder energiepolitisch enger aneinanderzubinden. 2006 wollte der damalige indische Ölminister Mani Shankar Aiyar ein Kartell der asiatischen ölimportierenden Länder gründen. Dafür unterzeichnete er in Peking eine bilaterale Vereinbarung – die jedoch im Sande verlief, als Aiyar gefeuert wurde. Denn um die Ölquellen konkurrieren Indien und China. Anders beim Klimaschutz und den erneuerbaren Energien: „China und Indien werden Technologieführer bei den erneuerbaren Energien sein, aber sie werden nicht ohne gegenseitigen Technologietransfer auskommen. Zudem wollen sie beide Technologie vom Westen“, sagt die Chinaexpertin Alka Acharya von der Jawaharlal-Nehru-Universität in Neu-Delhi. Dieses gemeinsame Empfinden für die Herausforderungen des Klimaschutzes sei für Delhi und Peking noch ganz neu. „Vor Kopenhagen war alles nur Gerede. Jetzt ist es handfest“, beobachtet Acharya. Was der „Geist von Kopenhagen“ wirklich bedeute? „Der Geist besagt: Wir Inder und Chinesen sind flexibel!“, sagt Acharya, „aber wir können gemeinsam Stopp sagen, wenn wir uns bedroht fühlen.“